Ein Tag als ganzes Leben

A. I. – Künstliche Intelligenz (A. I. – Artificial Intelligence, USA 2001)

 

Es ist wie eine gespiegelte Version der Erzählung des Dichters Hoffmann, die sich um seine Liebe zu Olympia dreht, der lebensgroßen, bezaubernden mechanischen Puppe. Hoffmann betrachtet sie durch eine Brille, die ihm die Welt in euphorischem Licht erscheinen lässt, und bemerkt nicht, dass es sich bei Olympia um keinen Menschen handelt, ihm fällt nicht einmal auf, dass sie während ihres Tanzes zweimal aufgezogen werden muss. Genau umgekehrt verhält es sich in Steven Spielbergs A. I.: Hier ist es die Maschine, die die Zuneigung des Menschen sucht.

Es geht um den elfjährigen David, bei dem es sich um einen Mecha handelt, ein Roboterkind, und seine verzehrende Liebe zu seiner Mutter Monica. Davids Funktion ist, die Mutter den Schmerz darüber vergessen zu lassen, dass ihr eigener Sohn Martin im Koma liegt. Als dieser völlig unerwartet erwacht, hat David seinen Zweck erfüllt und wird nicht mehr gebraucht. In Spielbergs Geschichte um die Beseelung des Unbeseelten sind Mechas jedoch in der Lage, emotionale Bindungen aufzubauen und Menschen zu lieben; so ist David unwiderruflich auf Monica geprägt – was in Eifersucht und einer für Martin sogar lebensbedrohlichen Situation und schlussfolgend in Davids Aussetzung im Wald gipfelt.

David sucht die Schuld für den Liebesentzug von seiner Mutter bei sich selbst und hat nur einen alles überragenden Wunsch: von ihr geliebt zu werden wie ein echter Menschenjunge. Er kennt die Erzählung von Pinocchio aus Monicas Gutenachtgeschichten. Die hölzerne Marionette, die von der mystischen Blauen Fee zuletzt in einen richtigen Jungen verwandelt wird, dient ihm als Vorbild. David macht sich auf die Suche nach dieser Fee, er findet sie schließlich an einem seltsamen, unwirklichen, der Realität entzogenen Ort: dem versunkenen Vergnügungspark Coney Island. Und hier setzt die erste der beiden wunderschönen Gänsehautszenen in Spielbergs Film ein, die getragen werden durch den herzzerreißenden Ausdruck in den Augen des Kinderdarstellers Haley Joel Osment, der uns bereits in M. Night Shyalamans The Sixth Sense (1999) in seiner Verzweiflung und Zerrissenheit eines kleinen Jungen gepackt hat, der tote Menschen sehen kann und damit verständlicherweise nicht gut klarkommt.

In dieser Welt, die aus den Fugen geraten ist, sind aufgrund der Polschmelze weite Teile des Planeten überflutet, so auch New York, wo nur noch die Spitzen der Wolkenkratzer aus dem Wasser ragen. David hat sich vom Sims eines der Gebäude ins Wasser fallen lassen, ein Schwarm Fische trug ihn mit sich, an der Radio City Music Hall vorbei, durch die überfluteten Straßen Manhattans und weiter darüber hinaus. „I saw it“, wird David kurze Zeit später seinem Roboterfreund Gigolo Joe berichten, der ihn wieder aus dem Wasser gefischt hat: „The place where she lives.“ So macht sich David in einem kleinen Unterwassergefährt auf zu den stillen Überresten von Coney Island, wo es ein Pinocchioland gibt, das geradezu auf ihn zu warten scheint. „Once upon a time“ ist in einem aufgeschlagenen Buch zu lesen, und da ist die Figur des Tischlers Geppetto, der gerade die Marionette erschafft.

Schließlich fangen die Scheinwerfer von Davids Gefährt eine Statue der Blauen Fee ein: Algen in ihrem Haar bewegen sich in der Strömung, so sieht sie fast lebendig aus. Da stürzt das unweit stehende Riesenrad zusammen und begräbt Davids Gefährt unter schweren Balken. David nimmt gar nicht zur Kenntnis, dass er hier gefangen ist und sich aus eigenem Zutun nicht mehr befreien kann. Er wendet die Augen nicht von der Statue der Blauen Fee, und wie in einem geheimen Ritual, in einem Gebet, fleht er sie wieder und immer wieder an, ihn zu einem echten Menschenjungen zu machen. Doch das Gesicht vor ihm zeigt keine Reaktionen, antwortet auch nicht, lächelt nur „softly forever“.

Zweitausend Jahre vergehen, informiert uns der Erzähler aus dem Off, und die Erde ist zu Eis erstarrt. Die Handlung wagt einen gewaltigen Sprung und bleibt dennoch glaubwürdig. Außerirdische erforschen die längst untergegangenen Zivilisationen des Planeten und stoßen dabei auf David, den ewigen Jungen. Als sie ihn aus dem Gefährt befreien, das zu seinem Gefängnis wurde, zerbricht die auftauende Statue der Blauen Fee unter seiner Berührung. Als Einziger, der die lebenden Menschen noch kannte, ist David für die Außerirdischen von größter Wichtigkeit. Ein echter Junge zu werden, der von seiner Mutter geliebt wird, ist auch nach so langer Zeit immer noch Davids größter, sein einziger Wunsch. Was für sie im Bereich des Möglichen liegt, machen die Besucher für David wahr: Er dürfe einen Tag mit Monica verleben, teilen sie ihm mit, doch wenn sie sich am Abend zum Schlafen niederlegt, würde sie für immer sterben.

Spielbergs Film wurde zuviel Sentiment vorgeworfen, seine in ihrer Konsequenz fast radikale Weise, die Emotionen hochzutreiben, mag man oder man mag sie nicht. Was der Regisseur in seinem Narrativ, das er zusammen mit Stanley Kubrick entwickelt hat, jedenfalls verhandelt, ist die ewige Frage, was den Menschen zum Menschen macht. „What am I?“, fragt die Titelfigur in dem Film I Robot (2004), der lose auf Isaac Asimovs Sciencefiction-Roman von 1950 basiert. Wie David kommt der Maschinenmann, der seinen Designer „Vater“ nennt, nicht mit den Gefühlen zurecht, die ihm einprogrammiert wurden. Und auch die Replikanten in Ridley Scotts Blade Runner (1982) entwickeln eigenständige Ambitionen und fliehen von den fernen Welten, die sie für die Menschen erschließen sollen, auf die Erde. Schon in Philip K. Dicks Dystopie Träumen Androiden von elektrischen Schafen (1968), der literarischen Vorlage zu Scotts Film, verschwimmen die Grenzen zwischen Menschen und Androiden, und es wird die Fähigkeit zur Empathie, das Einfühlungsvermögen in andere Lebewesen, und nicht die Intelligenz ins Treffen geführt, wenn es darum geht, das Menschliche im Menschen zu entdecken.

Die Beschreibung des einen Tages, den David mit seiner Mutter verleben darf, dieses von Licht durchfluteten Hier und Jetzt, das für David ein ganzes Leben bedeutet, gehört zu den schönsten von Spielbergs Erlösungsfantasien: „What day is it?“, fragt Monica verwirrt, als sie die Augen aufschlägt und David vor sich sieht. „It is today“, antwortet dieser schlicht. David macht für Monica Kaffee, er kämmt ihr die Haare, er malt für sie Bilder, sie laufen in der Wohnung herum und spielen Verstecken; da geschieht nichts Außergewöhnliches, und dennoch gibt es zwischen David und seiner Mutter endlich all die Zärtlichkeit, das Streicheln, die reine Liebe, nach der sich der Junge so sehr gesehnt hat. Schließlich, als der Tag zur Neige geht, bringt David Monica ins Bett. Er deckt sie zu und legt sich dann neben sie, ihre Hand in der seinen, und endlich, nach all der endlosen Zeit des enttäuschten Hoffens, hört er die ersehnten Worte: „I love you, David.“ Die Fähigkeit zu lieben und Liebe zu empfangen, hat David zumindest an diesem einen Tag zu einem richtigen Jungen gemacht, er ist zum Menschen geworden. Und David schließt die Augen und erreicht zum ersten Mal in seinem Leben „that place where dreams are born.“