Abbitte (Atonement, GB 2007)
Was man sieht oder glaubt zu sehen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, für das eigene Leben, aber auch für das von anderen, dieses Thema verhandelt Regisseur Joe Wright, seit seiner Austen-Adaption Stolz und Vorurteil (2005) auf Literaturverfilmungen spezialisiert, indem er dafür seinen ganz eigenen, grandios choreographierten Rhythmus findet. Ian McEwans umfangreiche Romanvorlage, eine meisterhafte tiefenpsyhologische Auslotung der Verflechtungen von Liebe, Verrat und der schöpferischen und zerstörerischen Kraft der Literatur, wurde vom britischen Dramatiker Christopher Hampton, der auch die brillanten Drehbücher für Maximilian Schells Geschichten aus dem Wiener Wald (1979) und Stephen Frears’ Gefährliche Liebschaften (1988) verfasste, zu ihrer Essenz verdichtet. Die Methode dabei ist die Betrachtung ein- und desselben Handlungsmoments aus unterschiedlichen Perspektiven, durch die Augen verschiedener Charaktere, die darin selbst maßgeblich agieren oder nur die Funktion beobachtender Zeug*innen innehaben; was dabei entsteht, ist eine flirrende Atmosphäre zwischen der Vorstellungswelt der einzelnen Figuren mit all ihren Sensüchten und Ängsten und der Realität – eine Stimmung, in der Emotionen bestimmend sind und alles möglich scheint.
Der Film spielt auf unterschiedlichen Zeitebenen, die durch Rückblenden miteinander verknüpft sind. Die Schriftstellerin Briony, eine alte, von den Geistern ihrer Vergangenheit heimgesuchte Frau, erinnert sich in einem Interview anlässlich ihres neuen, autobiografisch gefärbten Buches an ihre Kindheit und die tragischen Folgen eines Missverständnisses. Als schicksalhafter Punkt, an dem die Schicksale der Beteiligten verankert sind, erweist sich ein Sommertag im Jahre 1935 auf einem englischen Landsitz. Sich von der Kette unglückseliger Verstrickungen zu lösen, die damals ihren Anfang nehmen, gelingt weder der damals dreizehnjährigen Briony, noch ihrer älteren Schwester Cecilia und deren heimlichem, aus einfacheren Verhältnissen stammendem Liebhaber Robbie. Die fantasiebegabte Briony beobachtet von ihrem Zimmer aus ihre Schwester, im Unterkleid und durchnässt, am Brunnen im Garten. Briony imaginiert sich eine verfängliche Situation mit dem ebenfalls anwesenddn Robbie, dem Sohn der Haushälterin, die jedoch an der Realität vorbeigeht, wie uns klar wird, wenn wir dieselbe Szene aus der Perspektive der direkt Beteiligten nochmals erleben. Brionys Fantasie ist geweckt wie die Begierde zwischen Cecilia und Robbie und erhält neuen Auftrieb durch einen Brief, den sie durch ein Versehen in die Hände bekommt. Robbies sexuellen Wünsche in Bezug auf Cecilia versetzen ihr entflammtes Herz in Aufruhr. In der Verbindung mit ihrer früheren Beobachtung wird Robbie zu einer Art perversem Triebtäter, dessen Gelüsten, das bestimmt schon Brionys romantisches Ehrgefühl, Einhalt zu gebieten ist.
Und dann, vor dem Abendessen, gerät die Situation vollends außer Kontrolle. Cecilia und Robbie haben sich zur Aussprache in die Bibliothek zurückgezogen, Briony findet auf dem Boden einen der Ohrringe ihrer Schwester und folgt der Spur. Das Licht einer Schreibtischlampe blendet sie durch den Türspalt, sonst ist der ganze Raum im Dunkeln. Aber da sind gedämpfte Geräusche, und bei jedem von Brionys Schritten taucht mehr von den beiden Körpern auf, die im Liebesakt gegen eines der Bücherregale lehnen. Wie eine Gekreuzigte wirkt Cecilia auf ihre kleine Schwester, in Brionys Interpretation ist Robbies Körper, sind seine Arme und Beine die Instrumente der Gewalt, die Cecilia zur Unbeweglichkeit festnageln. Dass Briony ihn in der Folge als Vergewaltiger identifiziert und nicht von dieser Aussage abrückt, soll Robbies Leben für immer umkrempeln und letztlich sogar zerstören.
„Wer die Schönheit angeschaut mit Augen/ist dem Tode schon anheim gegeben“ – diese Worte des Dichters August von Platen kommen einem angesichts der wunderbaren Darstellerinnen von Briony und Cecilia in den Sinn. Das damenhafte Gesicht von Vanessa Redgrave, wenn sie sich an ihre Kindheit zurückerinnert; die großen Augen von Saoirse Ronan, die voller Naivität nicht fassen kann, wie sich die Umstände ihres Lebens entwickeln; und Keira Knightley, die der Figur der Cecilia eine faszinierende Mischung aus Zerbrechlichkeit und innerer Stärke verleiht – Regisseur Wright schwelgt in ihrem emotionalen Aufruhr wie in den Dekors seiner edlen Settings. Dazu kommt James McAvoy als Robbie, der nicht mehr ein noch aus weiß ob der Irrungen und Verwirrungen der Liebe, die sein Leben aus der Bahn geworfen haben.
In einer kunsthandwerklich spektakulären Plansequenz wandert er als Soldat, dem der Krieg als Alternative zum Gefängnis gestellt wurde, durch ein Tableau der entstellten Leiber bei der Schlacht um Dünkirchen, und dabei seinem eigenen Tod entgegen. Dass jeder Mensch zum Verhängnis der anderen werden kann, illustriert diese Szene auf andere Weise als jene von Brionys falscher Aussage. Ihre Erfindungen, ihre Literatur, haben sich, natürlich auf einer anderen Ebene, als ebenso gewalttätig erwiesen wie die Schändungen des Krieges. In dem Roman, über den sie im Fernsehinterview spricht, gibt sie den Ereignissen ein positives Ende: Cecilia und Robbie sind wieder vereint und leben zusammen in einem Haus am Meer. Es ist das Haus, dessen Bild Robbie bei sich trägt, als er in der Wirklichkeit von Dünkirchen an Blutvergiftung stirbt, es ist auch das Bild, das Cecilia vor Augen hat, als sie in Folge eines Luftangriffs in einer überfluteten U-Bahn-Station ertrinkt. Im Schöpferischen, das weiß Brinoy, liegt der Funke von Zerstörung, im Liebesakt in der dunklen Bibliothek lag der Same zum Untergang. Allein in der Fiktion, die sie am Ende ihres Lebens ersinnt, gelingt ihr der Schritt zur Erfüllung der Träume aller Beteiligten, der Lebenden und der Toten.