Wohlgewählte Worte

Anonymus (Anonymous, Deutschland/GB 2011)

Romeo und Julia (Romeo and Juliet, GB/Italien 1968)

Shakespeare in Love (USA/GB 1998)

William Shakespeares Romeo + Julia (William Shakespeare's Romeo + Juliet, USA 1996)

 

Wenn Romeo und seine Julia, die jungen Liebenden aus zwei verfeindeten Familien, im Scherz miteinander streiten, ob es denn die Nachtigall oder doch vielleicht die Lerche gewesen sei, die sie geweckt habe, ist das ein entscheidender Moment in Shakespeares Tragödie aus 1597 – als würde der Fluss der Zeit den Atem anhalten, als wäre den beiden ihre Hochzeitsnacht als kurzer Aufschub des Glücks im alsbald wieder so schlimmen Verlauf des Schicksals vergönnt. Sie erwachen nach ihrer ersten gemeinsamen Liebesnacht, ohne ahnen zu können, dass es ihre einzige bleiben wird.

In Franco Zeffirellis klassischer Inszenierung von 1968 wird Leonard Whitings Romeo vom Gesang der Vögel geweckt, er schlägt die Augen auf, und ein Lächeln umspielt seine Züge, denn da liegt Olivia Hussey als Julia in seinen Armen. Dass der Tag noch nicht herangebrochen sei, gibt Julia zu wissen vor: „It was the nightingale, and not the lark.“ Da ist sehr viel Zartheit zwischen den beiden, große Sanftheit und berührend-unschuldige Zärtlichkeit. „Liebende schaffen sich ein Universum, in dem sie letztlich allein sind, der einzige Stern von unerträglicher Helligkeit“, schreibt der deutsche Autor Bodo Kirchhoff in seinem großes Liebes- und Lebensroman Die Liebe in groben Zügen (2012). In einem solch abgeschotteten Universum befinden sich Romeo und Julia in diesem Moment der größten denkbaren Nähe, nichts von außen wollen sie an sich heranlassen, und die Emotionen sind so übergroß, dass ihnen für diese kurzen Augenblicke, die ihnen die Ewigkeit bedeuten, auch gelingt. Dennoch ist trotz der Liebesschwüre und der Küsse klar, dass Romeo das Weite suchen muss, schließlich hat der Konflikt zwischen den Familien bereits den Tod von Mercutio und Tybalt nach sich gezogen, und Nino Rotas Musik wallt auf wie die Gefühle des Paares, das sich in dieser bittersüßen Szene noch zu erkennen weigert, worauf die Geschichte unweigerlich hinausläuft.

Über dreißig Jahre später gibt es in Buz Lahrmanns Version des Stoffes dieses Aufblitzen von Erkenntnis, eine Art unheilvolle Vorahnung, als Romeo (Leonardo DiCaprio) von Julias (Claire Danes) Balkon in den Pool gefallen ist und dort wie tot treibt. Zuvor läuft dieselbe Szene unter ganz anderen Vorzeichen ab, in einem mit Heiligenfiguren und Ikonen religiös aufgeladenen Umfeld eines poppig-bunten Los Angeles von heute. Lahrmanns Inszenierung ist ein Transfer auf die Ebene der Fusion der Fremdheit des klassischen Textes mit den Codes des Gegenwärtigen. Gekämpft und getötet wird mit Pistolen statt mit Degen, an Stelle eines Lederwamses zieht sich Romeo weiße Boxershorts und ein Hawaiihemd über, das Dekor von Julias Jungmädchenzimmer ist barock überladen, moderne Rhythmen umschmeicheln die nackten Körper. Romeos Erwachen findet hier wie im Schock statt, in der Erinnerung an Tybalts Tod reißt er die Augen auf. Die Vögel zwitschern nur noch im Hintergrund, im Text finden sie keine Erwährung mehr, es wurde stärker gekürzt als bei Zeffirelli. Die Vertrautheit zwischen den beiden Liebenden findet unter einem Laken statt, hier sind sie ganz für sich; wie ein Zelt liegt es über ihrer kleinen Welt und schottet sie von der rohen Wirklichkeit ab. Sie stemmen sich gegen diese Realität mit all ihrer jugendlichen Kraft und werden doch an ihr zerrieben.

Shakespeare in Love schließlich, John Maddens herrlich (selbst)ironische und dann auch wieder wunderbar traurige Referenz auf das Stück und seine fiktive Entstehungsgeschichte, zeigt diese Liebesnacht als reales Erlebnis des Dichterlings William Shakespeare, der sich im elisabethanischen London mehr schlecht als recht durchschlägt. Aus dem Umstand, dass zu dieser Zeit Frauen das Schauspielen verboten war, entwickeln sich allerlei vergnügliche Verwechslungen. William (Joseph Fiennes in der Rolle, die für ihn geradezu erfunden scheint) verliebt sich in die junge Adelige Viola de Lesseps (Oscar für Gwyneth Paltrow), die gegen ihren Willen mit Colin Firth verheiratet werden soll, sich als Schauspieler verkleidet und bei den Proben zu Shakespeares neuestem Stück mit dem abstrusen Titel „Romeo and Ethel, the Pirate’s Daughter“ in der männlichen Hauptrolle auftritt. Kein Wunder, dass aus dieser Konstellation einige Verwirrung entsteht, doch als zumindest zwischen William und Viola klar ist, für wen sie denn da heftige Gefühle entwickelt haben, erleben sie eine Liebesnacht, die so wild ausfällt, dass die Amme vor dem Zimmer nur durch heftiges Stühlerücken so manche Lautentwicklung vor dem Rest der Dienerschaft geheim halten kann. Dass sie eben herausgefunden habe, dass es Dinge gebe, die besser seien als ein Theaterstück, meint Viola im Laufe dieser Nacht zu ihrem Will: „Even your play.“ Beim Aufwachen inspiriert ein Dialog über Mondlicht versus Sonnenschein beziehungsweise den Weckruf des Hahnes im Gegensatz zu anderen Vermutungen Shakespeares Verseschmieden: „Believe me, love, it was the owl.“ Viola wird zu Williams Muse, der Rest des Stücks fließt geradezu aus seiner Feder.

Davon, dass dergestaltetes kreatives Schaffen vom Künstler mitunter als Art von Heimsuchung empfunden werden kann, erzählt Roland Emmerichs Anonymus – kaum zu glauben, dass der Regisseur von meist nichts als ziemlich heiße Luft tönenden Blockbustern mit einer seiner Arbeiten in einer Liste der stärksten Gänsehautmomente des Kinos findet. Wie auch immer: Vor dem politischen Hintergrund des Machtkamopfes um die Nachfolge von Königin Elizabeth I. (Vanessa Redgrave in späten, ihre Tochter Joely Richardson in jungen Jahren) spekuliert Emmerichs Narrativ um die wahre Urheberschaft jener Werke, die wir heute als Shakespeares ansehen. Edward de Vere, der 17. Earl von Oxford, so liest sich die sogenannte Prince-Tudor-Theorie, sei nicht nur Elizabeths unehelicher Sohn gewesen, sondern später auch in Unwissenheit dieses Umstands ihr Liebhaber und Vater ihres Sohnes Henry. Wie auch immer man zu akamdemischen Diskursen wie diesen steht, eine wunderbar intensive Szene im Film gibt Aufschluss darüber, wieso Edward nicht unter seinem wahren Namen veröffentlichte.

Ein holzgetäfeltes Arbeitszimmer, flackerndes Kerzenlicht, Tränen in den Augen von Edwards Ehefrau Anne. Die Familie würde dem finanziellen Ruin nahestehen, klagt sie, und er hätte nichts anderes zu tun als zu schreiben – trotz seines Versprechens, damit aufzuhören. Voller Wut fegt sie die Papiere von Edwards Schreibtisch und herrscht ihn an: „Why must you write?“ Und setzt diese seine Tätigkeit mit nichts Minderem als der Erniedrigung ihrer Familie gleich. „The voices, Anne!“, beginnt ihr Mann, mit wallendem Herzblut von Rhys Ifans gespielt, einen Monolog, der sein Innerstes offenbart: „The voices, I can’t stop them.“ Und er erzählt, wie sehr ihn diese Stimmen heimsuchen würden: „When I sleep, when I wake, when I sup. When I walk down a hall.“ Es sei das süße Sehnen einer Jungfrau, die aufwallenden Ambitionen eines Jünglings, die heimtückischen Pläne eines Mörders, die jämmerlichen Bitten seiner Opfer: Nur wenn er ihre Stimmen aufs Papier banne, würde er Ruhe finden. „Only then is my mind quieted. At peace.“ Und im Aufwallen seiner Emotionen fleht Edward geradezu um Verständnis bei seiner Frau: „I would go mad if I didn’t write down the voices.“ Doch Anne, angewidert: „Are you possessed?“ Und Edwards resignative Antwort: „Maybe I am.“

Obwohl nicht nur die Tragödie um Romeo und seine Julia, sondern auch Shakespeare in Love traurig endet, weil William ja bereits verheiratet ist und Viola der Ehe mit dem ungeliebten Grafen nicht entrinnen kann, steht da die verheißungsvolle Erkenntnis, die Viola am Morgen nach ihrer Liebesnacht das Herz vor Glück fast zu sprengen droht: „It is a new day. It is a new life.“ Tatsächlich tut sich im Klang von Shakespeares Sprache, in der Rührung und Berührung seiner Verse auch heute, nach mehr als vierhundert Jahren, vor uns eine neue Welt auf. „I find your words the most wondrous heard on our stage“, bestätigt der englische Bühnenautor und Dichter Ben Johnson, ein Zeitgenosse Shakespeares, Edward de Vere auf dem Totenbett: „On any stage. Ever.“ Womit alles gesagt und der letzte Satz geschrieben ist.