Das Grauen

Apocaplypse Now (USA 1979)

Die durch die Hölle gehen (The Deer Hunter, USA 1978)

 

Da liegt ein Mann im Sterben, und sein Blick geht weit in die Ferne und zugleich direkt in die Seele seines Seins, und was er erblickt, sind seine letzten Worte: Das Grauen! Das Grauen!” Heart of Darkness ist Joseph Conrads Novelle aus dem Jahr 1899 betitelt, und geradewegs ins Herz dieser Finsternis begibt sich Marlow, der Erzähler, auf seiner Reise den Kongo hinauf. Er ist auf der Suche nach Kurtz, dem Leiter der äußersten Station für den Handel mit Elfenbein. Die Schiffsfahrt dorthin gerät zum veritablen Alptraum in die Schrecken kolonialer Ausbeutung und Grausamkeiten. Marlow versteht die Welt nicht, die ihn hier umgibt, und Kurtz, dem Fieberkranken, dem Sterbenden, dem Diktator der Dschungels, ist das Verständnis für jegliche Realität längst abhanden gekommen. In seinen letzten gehauchten Worten verdichtet sich ihm seine Existenz zur Einsicht in die Abgründe des Wahnsinns.

The horror! The horror!”, sind auch Marlon Brandos letzte Worte, die Szenerie hat sich vom Belgisch-Kongo der Kolonialzeit zum Vietnamkriegsszenario der 1970er-Jahre gewandelt. Für seine freie filmische Adaption der Inszenierung des Irrsinns des Krieges entwickelt Francis Ford Coppola eine verzerrte Spiegelung jener Verzweiflung, die Conrads Text kennzeichnet, und findet dafür Bilder der Steigerung und Vertiefung, wenn er etwa zum Score des Wallkürenritts einen Strandabschnitt bombardieren lässt, um das ungestörte Surfen der GIs abzusichern: I love napalm in the morning.”

Martin Sheen erhält als Soldat namens Willard den Auftrag, den abtrünnigen, angeblich wahnsinnigen Colonel Kurtz zu töten. Per Patrouillenboot gelangt er zu dessen Dschungelversteck, wo Kurtz wie ein König herrscht. Freud nannte das Unbewusste das „innere Ausland“, und in dieser gedanklichen Linie interpretiert Udo Wolten das Reisemotiv in Conrads Erzählung als Verweis auf die Vergeblichkeit der Zuflucht in die Eindeutigkeit eines übersteigerten, abstrakten Selbstideals. Die Umstände, die zur Zerstörung eines solches Idealbildes  führen, schildet Marlon Brandos Kurtz in seinem berühmten Horror-Monolog. Einem Golem gleich taucht sein kahler Schädel immer wieder im gespenstischen Flackern des Feuers aus den Schatten auf, die ihn im nächsten Moment schon wieder zu verschlingen drohen, umklammert von all den Schrecken, die ihn heimsuchen, gleichzeitig unberechenbar und tödlich, als er nuschelnd, kauend, irgendwie jenseitig und sonst wo als an diesem Ort und zu dieser Zeit, von seinem Einsatz bei einer Polio-Impfaktion berichtet: I’ve seen horrors, horrors that you’ve seen. But you have no right to call me a murderer. You have a right to kill me. You have a right to do that, but you have no right to judge me.“ Der Fraß in Kurtz’ Seele, als er des Haufens von Armen angesichtigt wird, die den eben erst geimpften Kindern nach dem Abzug der amerikanischen Soldaten abgehackt wurden, spiegelt sich in seinen Augen und zieht uns direkt hinein in seine schreckliche, die fast unaussprechliche Schlussfolgerung: Zehn Divisionen solcher Männer würden ihm genügen und der Krieg wäre bald ausgestanden, denn: „You have to have men who are moral ... and at the same time who are able to utilize their primordal instincts to kill without feeling ... without passion ... without judgement ... without judgement. Because it’s judgement that defeats us.   

Willard wird Kurtz erschlagen, während die Einheimischen draußen mit einer Machete einem Wasserbüffel den Kopf abtrennen, und dann werden sie im strömenden Tropenregen vor ihm niederknien, während er, mit Blut und Schlamm bespritzt, durch ihre Reihen schreitet. Der Krieg hat seine Persönlichkeit verändert wie die von Michael, Nick und Steven, den drei russischstämmigen Stahlarbeitern aus einer grauen amerikanischen Provinzstadt in Michael Ciminos The Deer Hunter. Der englische Originaltitel bezieht sich auf die Rotwildjagd, einem Hobby, dem sie nachgehen, bevor sie sich aus Patriotismus freiwillig nach Vietnam melden, der deutsche Die durch die Hölle gehen lässt erahnen, was mit ihnen dort passiert. Der Film zeigt kaum herkömmliche Kampfhandlungen, er beschreibt in etwa gleich langen Akten, was vor und nach dem Einsatz geschieht, und in Vietnam selbst geht es ums nackte Überleben. Vom Vietcong gefangen genommen, werden die Freunde in Käfigen in einem Fluss gefangen gehalten, wo ihnen das Wasser buchstäblich bis zum Halse steht. In einer Bambushütte an diesem Fluss, zwingen die Aufseher sie dazu, gegeneinander Russisches Roulette zu spielen: das ist diese Wahnsinnsszene im wahrsten Sinne des Wortes. Robert De Niro, Christopher Walken und John Savage ziehen uns durch ihr intensives Spiel geradewegs hinein in die titelgebende Hölle – die Schläge ins Gesicht, das gegenseitige Anfeuern, den Peinigern den eigenen Mut zu beweisen, diese nackten Seelen, diese schiere Todesangst, dieser Kampf erst mal nicht mit den Peinigern, sondern mit sich selbst und dem Punkt, sei es jener der absoluten Selbstverleugnung oder der Kaltblütigkeit, an dem nichts mehr zählt als abzudrücken. Und dann die Euphorie, dieses Aufbrausen von Glück, als statt dem Schuss das Klicken ertönt.

Durch einen Trick überzeugt Robert De Niros Charakter die Aufseher, drei Kugeln statt einer in die Waffe zu schieben, es gelingt, sich freizuschießen und die Flucht. Die andere Flucht, jene zurück in ein normales Leben, schaffen sie hingegen nicht. Steven verliert beide Beine, Michael findet sich in der Heimat nicht mehr zurecht, Nick bleibt in Saigon und endet in einem Casino neuerlich beim Russischen Roulette.  Die Verzweilfung, vom Freund nicht erkannt zu werden, treibt Michael, der auf der Suche nach Nick nach Asien zurückgekehrt ist, zu einem Spiel gegen ihn – doch diesmal hat Nick kein Glück. Genau in dem Moment, als er Michael doch zu erkennen scheint, drückt er ab. Die Beine, die Seele, das Leben – jeder der drei Freunde hat Vieles, hat alles verloren. Beklemmend endet der Film; nach Nicks Begräbnis sitzen die Witwen, die Mütter, die ihre Söhne verloren haben, und die Männer, die ohne Freunde aus dem Krieg heimgekehrt sind, beisammen. Zuerst zaghaft und fast verlegen, dann immer trotziger singen diese Heimatlosen „God bless America“ und klammern sich damit an eine Idee von Zugehörigkeit, von Heimat eben, die ihnen der Krieg eigentlich entrissen hat.

Er solle seinen Sohn aufsuchen und ihm erklären, wer sein Vater gewesen sei, hat Kurtz Willard noch gebeten, bevor er von ihm erschlagen wurde: „If you understand me, Willard, you will do this favor for me.“ Dass dies der Fall ist, ist anzunehmen, denn auch Willard ist nun ein anderer, der den Blick in die Abgründe der Finsternis, die Dunkelheit der menschlichen Seele getan hat. Der Elfenbeinhändler im Kongo, der Seemann Marlow, der Soldat Willard, die seelischen und körperlichen Krüppel, die Heimkehrer aus Vietnam, die Frauen, die ihre Liebsten begraben haben, das Lied von der Größe der Nation auf den Lippen – sie alle haben eine Ahnung davon, was auch der Colonel in seinem Wahnsinn gesehen hat: „Das Grauen! Das Grauen!“