Ausgerechnet Wolkenkratzer (Safety Last!, USA 1923)
Der General (The General, USA 1926)
Dass er nur einen Park, einen Polizisten und ein hübsches Mädchen brauche, um eine Komödie zu drehen, soll Charlie Chaplin einmal gesagt haben. Dieses Konzept für die sogenannten „one reelers“, die kurzen Slapstickszenen der Zeit, als das Kino noch in den Kinderschuhen steckte, mag bescheiden klingen, setzte aber, um zu funktionieren, jene geradezu unglaubliche Körperbeherrschung und den Sinn für das Timing der Gags voraus, die Chaplin und andere Stars dieser Ära auszeichnete. Die gespielten Witze finden sich auch in den Kinofilmen mit längerer Laufzeit. Um welche gefinkelten Leistungen es sich bei manchen dieser Arbeiten handelt, weiß uns heute noch zu beeindrucken, insbesondere was die Filme von Harold Lloyd und Buster Keaton betrifft, und in diesen zwei Szenen, die in ihrer Einmaligkeit bis heute überdauert haben.
Bei den Stars des Stummfilms handelte es sich um die wahren Helden des Kinos, führten sie ihre zuweilen halsbrecherisch gefährlichen Stunts doch meist selbst aus. Wie etwa Harold LLoyds Kletteraktion auf ein Gebäude, das damals als Wolkenkratzer durchging. Um eine Frau und in der Folge eine Familie versorgen zu können, geht Harold in die große Stadt, dorthin möchte er die Freundin nachholen, sobald er seinen Weg auf der Karriereleiter gemacht hat. Dieser führt ihn vorerst gar nicht steil nach oben, er muss sich bei der Arbeit in einem Kaufhaus mit versnobten Vorgesetzten und Horden kaufwütiger Damen herumschlagen und Prüfungen wie einen Spagat zwischen einer Straßenbahn und einem fahrenden Auto sowie gemeinsam mit seinem Freund Bill (Bill Strother) die übliche Verfolgungsjagd mit einem Polizisten bestehen. Doch dann geht es im wahrsten Sinn des Wortes für ihn hinauf, nämlich die zwölfstöckige Fassade des Kaufhauses, die ihm der klettertechnisch talentierte Bill des Werbeeffekts wegen zu bewältigen verspricht. Das Ereignis wird groß angekündigt, eine gespannte Menschenmenge hat sich versammelt, da tritt ein Störfaktor in Person des Polizisten auf, der Bill erneut auf den Fersen ist. Auf diese Weise durchmessen der Flüchtende und sein Verfolger das Gebäude von Stock zu Stock – doch über die Treppen im Inneren, wohingegen Harold nichts anderes übrigbleibt, als die Besteigung außen selbst vorzunehmen. Sie würden einen unbemerkten Wechsel vollziehen, sobald er den Polizisten abgeschüttelt hätte, ruft ihm Bill als einer der „running gags“ des Films wiederholt zu, doch daraus wird, Stockwerk zu Stockwerk, nichts.
Mit welchen Widrigkeiten muss sich der arme Harold, auch bei den waghalsigsten Aktionen korrekt mit Anzug und Hut gekleidet, nicht herumschlagen! Stolpern nahe am Abgrund, geradezu akrobatische Verrenkungen, Beinahe-Katastrophen verursachende Fehltritte, ein Sack, der umkippt und Körner auf ihm vergießt, Tauben, die aus diesem Grund über ihn herfallen und auf ihm herumpicken, überhängende Gesimse, an denen man sich gehörig den Kopf anstoßen kann, irritierende weibliche Fans an den Fenstern, ein Netz, das aus einem Fenster der Sportabteilung geworfen wird, und in dem sich Harold heillos verheddert, die Attacke eines kläffenden Hundes – und dann kommt es zu der Szene mit der Uhr.
Harold klammert sich gerade an die Mauer seitlich eines Fensters, als dieses nach außen gekippt
wird. Er verliert den Halt, fällt zur Seite und kriegt gerade noch den Zeiger der großen Uhr an der Ecke des Gebäudes zu packen. Durch sein Gewicht löst sich der obere Teil des Ziffernblattes und
so hängt Harold an dessen unteren Ende zwischen Himmel und Erde, eine jämmerliche Lage, wenn es denn je eine gegeben hat. Kumpel Bill erkennt den Ernst derselben und wirft ihm aus einem Fenster
darüber ein Seil zu, schafft es jedoch nicht mehr, dieses zu befestigen, taucht doch der Polizist wieder einmal im ungünstigsten Moment auf. Es bedarf einiger Verrenkungen von Harold, bis er es
endlich zu fassen bekommt – um flugs abzustürzen. In wirklich allerletzter Sekunde packt Bill das Ende des Seils und – Ehre, wem Ehre gebührt – auch der Polizist durchblickt die Situation und
unterstützt ihn beim Hochziehen des armen Harold. Und dann fällt dieser noch in die Uhr und bleibt mit dem Fuß an einem Kabel hängen und eine Maus kriecht in eines seiner Hosenbeine und die Menge
ist begeistert ob des Veitstanzes, den er auf einem Gesims aufführt. Und sogar als Harold endlich das flache Dach des Gebäudes erreicht hat und wir ihn endlich in Sicherheit wähnen, setzt die
Dramaturgie des Films noch etwas drauf: Er verheddert sich mit einem Fuß in einem Seil, stürzt in die Tiefe und schwingt kopfunter hin und her, bis ihn seine Freundin, die alles mitangesehen hat,
auffängt und er in ihren Armen landet und es zu einem erlösenden Kuss kommt.
Die Dokumentation Harold Lloyd: The Third Genius gibt Aufschluss über die gefährlichen Bedingungen des Drehs ohne direkte Spezialeffekte. Die Kletteraktionen wurden auf einer künstlichen Fassade unterschiedlicher Höhe gedreht, die dem echten Gebäude vorgebaut war, die Kameras befanden sich auf dem Dach darunter. Obwohl er bei einem früheren Unfall zwei Finger verloren hatte, kletterte Lloyd demnach tatsächlich in der im Film zu sehenden Höhe, aber mit der Absicherung des Daches „nur“ wenige Meter unter sich. Die künstliche Fassade musste sich aber möglichst nah am realen Abgrund befinden, damit die Kameras ein realistisches Bild der tief darunter liegenden Straße im Hintergrund einfangen konnten. Aus diesem Grund schwebte Lloyd immer noch in der Gefahr, bei einem Sturz nicht nur wenige Meter, sondern vom gesamten Gebäude zu fallen. Die Momente, in denen er an der Uhr hängt, sind in die Geschichte des Stummfilms eingegangen und wurden mehrmals zitiert, zum Beispiel in Robert Zemeckis‘ Zurück in die Zukunft (1985) und Martin Scorseses Hugo Cabret (2011).
Dies trifft auch auf Buster Keatons Der General zu, praktisch eine einzige Verfolgungsjagd zwischen zwei Zügen, eine sehr realistisch gestaltete Folge von Aktionen in der Ausreizung sämtlicher damaliger technischer Möglichkeiten, die wie die Vorlage zu den rasenden Förderwagen in Spielbergs Indiana Jones und der Tempel des Todes (1984) wirken. Eine Dreiecksbeziehung zwischen Mann, Frau und Maschine: Zwei Lieben, heißt es zu Beginn des Films, gäbe es im Leben des von Keaton dargestellten Johnnie, jene zu seiner Lok namens „General“ und seiner Freundin Annabelle Lee (Marion Mack). Doch Letztere lässt ihn sitzen, als er bei der Musterung nicht zur Armee der konföderierten Südstaaten zugelassen wird.
Schon an diesen Punkt der Geschichte setzt Keaton eine kleine feine Szene, die auf den ersten Blick nicht wirklich spektakulär daherkommt, bei der es sich aber um den gefährlichsten des gesamten, an solchen gefährlichen Stunts nicht gerade armen Streifens handeln soll. Ein Bild der Nachdenklichkeit und Traurigkeit des Zurückgewiesenen: In seine trüben Gedanken versunken, setzt sich Johnnie auf die Kuppelstange der Lokomotive und bleibt, als diese anfährt, unbewegt darauf sitzen. In den kreisförmigen Bewegungen der Stange wird er gleichsam aus der Szene getragen, mit leicht schräger Kopfhaltung in sich versunken bemerkt er offenbar gar nicht, was um ihn herum geschieht. Buster Keaton ging in die Filmgeschichte als Mann ohne Emotionen ein, sein versteinerter Gesichtsausdruck, diese gebremste Mimik, lässt keine Gefühle erkennen; diese Reduktion der Mimik ermöglicht erst die Entfaltung der Situation und gerade deshalb gerät Keaton diese Szene zu einem Moment großer Ausdruckskraft. Oder mit den Worten des Autors Michael Hanisch: „Oft als Indiz für Teilnahmslosigkeit fehlinterpretiert, bedeutet er das Gegenteil: höchste Konzentration auf die zu erledigenden, schier unlösbaren Aufgaben.“ Die Gefährlichkeit der Einstellung, so ist vielerorts nachzulesen, war jedenfalls eine beträchtliche, denn hätte der Maschinist beim Starten der Lokomotive etwas zu viel Dampf gegeben, hätten die Räder durchgedreht, und Keaton wäre auf der Stelle tot gewesen.
Mit seiner geliebten Lok und auch einmal unter dem Einsatz einer Draisine auf Verfolgung eines Zuges der Nordstaatler und dann in der zweiten Hälfte des Films mit einem anderen dampfenden Ungetüm auf der Spur der entführten „General“ – was hier an Stunts auf fahrenden Zügen, an Klettern über deren Dächer und dem Verschieben brennender Waggons abläuft, suchte damals Seinesgleichen. In einer Szene werfen die Schurken im Zug vor Johnnie eine Holzplanke auf die Geleise, da springt er cool von der Schnauze der Lokomotive ab und läuft ihr voraus, kriegt gerade noch die zwischen den Schienen verspießte Planke frei und steigt mit eleganter Bewegung wieder auf den Zug auf.
Als Höhepunkt der Umsetzung eines historischen Vorfalls setzt Johnnie die strategisch wichtige Brücke am Rock River in Brand und diese bricht unter der Last des feindlichen Zuges zusammen – kein Wunder, dass es bei den Dreharbeiten haufenweise zu Unfällen und Verletzungen und etwa auch zu einem Waldbrand aufgrund des Funkenflugs kam. Die Kosten der Produktion gerieten jedenfalls außer Rand und Band. Als der Film unverständlicher Weise dann auch noch bei Kritik und Publikum durchfiel, begann Buster Keatons Abstieg von einem der populärsten Komiker in die Bedeutungslosigkeit. Charlie Chaplin nimmt auf dieses Schicksal und die Angst des Komikers, vom Publikum nicht mehr als lustig wahrgenommen zu werden, in seinem Film Rampenlicht (1952) Bezug. Erst seit den 1970er-Jahren wurde die Qualitäten von Der General wiederentdeckt und die Vermutung, die zu langsame Projektionsgeschwindigkeit von nur 16 statt 24 Bildern pro Sekunde wäre für den Misserfolg des Streifens verantwortlich gewesen, ins Treffen geführt. Wie auch immer, die Faszination der Ergebnisse der Arbeit von wahren Helden den Kinos, als die wir Buster Keaton und Harold Lloyd aus guten Gründen bezeichnen dürfen, ist ungebrochen.