Labor der Gewalt

Bennys Video (Österreich/Schweiz 1992)

71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls (Österreich/Deutschland 1994)

Funny Games/Funny Games U. S. (Österreich 1997; USA/GB/Frankreich/Österreich 2007)

Der siebente Kontinent (Österreich 1989)

 

Ein alter Mann telefoniert mit seiner Tochter, man hört nur seine Seite der Unterhaltung. Der Mann lebt allein, das Verhältnis zur Tochter ist kein in­niges. Im Hintergrund läuft der Fernseher mit leisem Ton, ein Auffla­ck­ern der Außenwelt ohne Einfluss auf das stille Drama, das sich zwischen dem Vater und seiner Tochter abspielt. Der Mann hat den Eindruck, seiner Toch­ter lästig zu sein, mehrmals fordert er sie zum Aufle­gen auf, aber dann, meint er, würde sie ein schlechtes Gewissen haben. Vater und Tochter sind aufeinander eingespielt, wenn es um die Rituale des Einander-Verletzens geht und darum, die eigene Verletzlichkeit zu verbergen. Trotzdem bricht immer wieder Verbitterung durch: „Tut mir leid, dass ich existiere!“ Auf einge­fah­re­nen Wegen gibt ein Wort das andere, die Sehnsucht nach Nähe, nach Bestä­tigung und Sinnhaf­tigkeit dessen, was vom Leben geblieben ist, sieht sich zwischen Grantigkeit und Weiner­lich­keit, Resignation und den kurzen Momenten von Aggressi­vität ge­fangen. Allein wenn die Enkeltochter, Sissi, am Apparat ist, scheint der alte Mann wie ausgewechselt, auf einmal wirkt er lebhaft und froh. In der Kon­frontation mit seiner Tochter friert sein Lächeln aber sofort wieder ein.  

Der Schauspieler Otto Grünmandl verkörpert diesen alten Mann ohne Illu­sionen und Zukunft in dem Film 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls und darin in einer dieser langen Szenen, die einer Folter nicht nur für die in ihrer spezifischen Lebenssituation gefangenen Charaktere, sondern auch für uns Zuschauer*innen darstellen und sich durch das gesamte Werk des österreichischen Regisseurs Michael Haneke ziehen. In Der siebente Kontinent ist es das lange Sterben einer Mittelstandsfamilie, Georg, Anna und Evi (Dieter Berner, Birgit Doll und Leni Tanzer), die den gemeinsamen Freitod beschließen und auch tatsächlich bis zur finalen Konsequenz durchziehen. Die Geschäfte sind abgewickelt, das Auto ist verkauft und ein letztes Frühstücksmahl mit Sekt und Aufschnittplatte angerichtet, dann werden die Bilder im Haus abgenommen, die Kleider zerschnitten, Kinderzeichnungen zerrissen, Möbel zersägt und Geld die Toilette hinuntergespült. Berge von Schutt sind, was der Familie früher etwas bedeutet hat. Die Fische aus dem umgestoßenen Aquarium liegen auf dem Boden und japsen nach Luft, das Wasser mit all den darin aufgelösten Tabletten schmeckt bitter. Georg schreibt die Sterbezeiten seiner Tochter und dann seiner Frau an die Wand. Im Rauschen des Fernsehapparates liegt schließlich auch er auf dem Bett und stirbt seinen langsamen Tod.

Hanekes filmische Narrative verhandeln die Rolle, die Ge­walt in un­se­rer Gesellschaft spielt, einfache Antworten be­züglich ihrer Ursachen geben sie freilich nicht; sie verweigern sich einer klaren, erklärenden Auflösung. Ohne Schnitt hält die Ka­me­ra minuten­lang auf Sze­nen der Brutalität, die so alltäglich, geradezu nebenbei pas­siert, dass man kaum glauben mag, was man da zu sehen bekommt. In Bennys Video ermordet der titelgebende Teenager (Arno Frisch agiert in der ihm eigenen Zurückhaltung und dennoch mit zuweilen extremer Direktheit) das Mädchen (Ingrid Strassner), das er in seiner Stammvideothek kennengelernt und in die elterliche Luxuswohnung eingeladen hat, mit einem Bolzenschussgerät. Wir verfolgen die Szene über den Fernsehschirm, auf dem sich Benny zuvor immer wieder die Tötung eines Schweins angesehen hat. Das schwer verletzte Mädchen kriecht über den Boden, sie weint und schluchzt, zum Teil spielt sich das außerhalb des Bildausschnittes des TV-Gerätes ab. Dass sie Ruhe geben solle, ruft Benny mehrmals, dann lädt er die Waffe nach, es fällt ein Schuss und daraufhin abermals Schreien und Flehen des Mädchens und Bennys genervte Bitte, doch endlich still zu sein. Neuerliches Laden, ein letzter Schuss, dann gibt es keinen Laut mehr. Benny trinkt Wasser und isst Joghurt, er wirkt dabei sehr gefasst und weiß mit seiner Tat offenbar nichts anzufangen.

Die Sinnfrage stellen sich Hanekes Mörder nicht, kein Spot fällt auf die Hintergründe ihres Handelns. Auch das perfide Katz- und Mausspiel, das die beiden Burschen in Funny Games mit der Familie in ihrem Ferienhaus am See treiben, richtet sich nicht nach den Regeln des Spannungskinos. Haneke bricht mit gewohnten Konventionen, nicht zuletzt, wenn die Delinquenten mitunter direkt in die Kamera und somit uns anblicken und ihre Handlungen selbst auf zynische Weise kommentieren. Arno Frisch und Frank Giering sind die zwei jungen Männer in der ursprünglichen Fassung des Stoffes aus 1997, Michael Pitt und Brady Corbet in der bildidenten amerikanischen Version zehn Jahre später, Susanne Lothar und Ulrich Mühe stehen im ersten Film Naomi Watts und Tim Roth im zweiten gegenüber – brillante Darstellungen allesamt. „Ich versuche Wege zu finden, um Gewalt als das darzustellen, was sie immer ist, als nicht konsumierbar“, sagte Haneke einmal. Die lakonische Hand des Regisseurs, die Banalität des Tötens und des Sterbens – ein höhnischer Kommentar auf mögliche Erwartungen von Zuschauer*innen, die von Genrefilmen üblicherweise brav bedient werden: etwa wenn bei einem Auszählspiel das nächste Opfer eruiert werden soll und jenes Familienmitglied stirbt, von dem man es am wenigsten erwarten würde, nämlich das Kind (Stefan Clapczinyski/Devon Gearhart); oder wenn die Mutter endlich wieder auf die Beine kommt, entdeckt, dass ihr Mann doch nicht tot ist, und sich auf die Suche nach Hilfe macht – nur um auf die näherkommenden Scheinwerfer zuzulaufen, die sich alsbald als der Wagen der Mörder entpuppen.

Die 71 Fragmente stellen eine sachlich-kühle Chronologie der Abfolge von Ereignissen dar, die dem Amoklauf eines Studenten vorausgehen. Dieser erschießt zu Weihnachten 1983 in einer Bankfiliale drei Menschen und dann sich selbst. Hanekes distanzierte Darstel­lungs­weise der Sequenzen, die durch Schwarzweißbilder voneinander getrennt sind und deren Zusammen­hang sich den Betrachter*innen erst allmählich erschließt, sorgt bei diesen für nachhaltige Verunsicherung, aber auch anhaltende Faszination. Eine Angestellte der Bank, ein Waffendieb, ein kinderloses Ehepaar, ein Flüchtlingsjunge und eben auch der Pensionist aus der Telefonszene werden in Ausschnitten aus ihren Alltagsverrichtungen in der Zeit vor der Katastrophe gezeigt, mit der sie auf teils sehr lose, deshalb aber nicht weniger schicksalhafte Weise verbunden sind. Ihnen gemein sind die soziale Isolation und die schier unerträgliche Einsamkeit, die sie gefangen hält wie unsichtbare Ketten.

Wie im Falle des alten Mannes am Telefon. Wie unter einem Vergrößerungs­glas ver­­folgt die Kamera das Spiel der Emotionen in seinem Gesicht und der Stim­me. Ei­ne Art laborhafte Ver­suchs­anordnung ist das, die schreckliche Iso­la­tion, die Einsamkeit und Trostlosig­keit dieses Menschen werden zwar re­gis­triert, bleiben aber in Distanz wie die Fernsehnachrichten oder auch die Tochter am ande­ren Ende der Telefonleitung. Die fragmentari­schen Sze­nen des Films treiben auf die sinnlose Amoktat am Ende zu, die Gewalt findet aber auch schon vorher statt, in der alltäglichen Sprach­lo­sigkeit zwischen Ehepart­nern, der seelischen Verkümmerung eines Straßen­kin­des und eben auch zwischen einem Vater und seiner Toch­ter, die ihn wohl nur angeru­fen hat, weil sie sonst ein schlech­tes Gewissen hätte.