Electricity

Billy Elliot - I Will Dance (Billy Elliot, GB 2000)

 

Billy Elliot und sein Vater Jackie wissen nicht, wohin sie schauen, noch was sie sagen sollen; dass sie sich unwohl fühlen, ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Und doch ist es Billys übergroßer Wunsch gewesen, zur Aufnahmsprüfung an der Royal Ballet School in London zugelassen zu werden. Völlig unterschiedliche Welten und die dazu gehörigen fremden Prioritäten prallen in Stephen Daldrys Erstlingsfilm aufeinander, im Kleinen wie im Großen. Da ist Billys Traum vom Tanzen, der so gar nicht konform geht mit den Vorstellungen seines Vaters und seines Bruders Tony bezüglich der passenden Betätigungen für einen „normalen“ Jungen, die sich eher in Richtung Boxtraining bewegen; da sind aber auch die weiten Hallen der versnobten Schule, die in krassem Kontrast zu der Kleinstadt im Revier des Kohlenbergbaus stehen, in der Billy aufgewachsen ist. Die kleine Welt der Familie Elliott ist bedroht durch den Tod von Billys Mutter wie die große rundum von den sozialen Umbrüchen der Thatcher-Ära, in der kein Stein auf dem anderen bleibt. Die Bergarbeiterstreiks bringen die Familie in arge finanzielle Bedrängnis und lassen jede auch nur so kleine Reise als absoluten Luxus erscheinen. Nach dem Grund gefragt, weshalb er noch nie zuvor in London gewesen sei, hat Jackie geradeheraus gemeint, dass es dort eben keine Minen gäbe.

Billys Versuchen, seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, sind in diesem Umfeld enge Grenzen gesetzt. Wenn er im Tanz wütend gegen die Mauern eines Hinterhofes drischt und tritt, ist es sein verzweifeltes Aufbegehren gegen ein Leben, das ihm wie ein Gefängnis erscheint. Billys Tanzschritte entsprechen dem Trommeln seines Herzens, sie sind Ausdruck seiner Hilflosigkeit inmitten eines erdrückenden sozialen Umfelds. Abgesehen von seiner Ballettlehrerin und großen Förderin Mrs. Wilkinson (Julie Walters) und seinem Freund Michael (Stuart Wells), der insgeheim gern die Kleider seiner Mutter anprobiert, hat niemand Verständnis für seine Liebe zum Ballett.

Dennoch beginnt sein Vater zu akzeptieren, dass da etwas mit seinem Sohn passiert ist, das über sein eigenes Verständnis hinausgeht. Dass er ihn an einem Weihnachtsabend beim Tanzen beobachtet, gibt den Ausschlag, Jackie schluckt sein anfängliches Entsetzen über die Tanzbegeisterung seines Sohnes hinunter, lässt sich für ihn sogar als Streikbrecher beschimpfen, kratzt schließlich jeden Penny zusammen, um die Fahrt nach London finanzieren zu können.

Doch vor dem Komitee ist Billy wie eingefroren. Sein Leben lang konnte er nicht stillstehen, selbst das Frühstückmachen oder der Weg zur Schule werden für ihn zur Tanzaufführung, und selbst wenn die streikenden Arbeiter mit der Polizei zusammenstoßen, wirkte dies durch seine Augen wie die reinste Choreografie. Jetzt aber spielt die Musik, zu der er eigentlich vortanzen sollte, und Billy steht da und ist wie gelähmt. Endlich, nach banger Unsicherheit, kommt Leben in Billy - aber was die Damen und Herren vom Schulkomitee hier zu sehen bekommen, hat nichts mit den wohlgesetzten Schritten und einstudierten Bewegungen zu tun, die ihnen üblicherweise vorgetragen werden. Die Stromstöße, die Billys Körper durchfluten, dieses Hoffen und Sehnen, das an seinen Gliedern reißt, kann er nur ab und zu mit einigen der trainierten Ballettbewegungen in Zaum halten, sie wirbeln ihn durch den Saal und in der Luft herum, und er muss sich schlicht und einfach in ihrem Rhythmus bewegen, sonst würde es ihm das Herz in der Brust zersprengen. Was er beim Tanzen denn fühle, fragt ihn ein Mitglied des Komitees abschließend, und anfangs findet Billy auch dazu keine Worte. „Sorta feels good“, meint er dann. „Sorta stiff and that, but once I get going ... then I like, forget everything. And ... sorta disappear.“ Dass er eine Veränderung in seinem ganzen Körper spüre, erscheint uns nach den Bildern, die wir gerade gesehen haben, glaubhaft, auch dass Billy ist, als hätte er Feuer in den Beinen. „I'm just there. Flyin' like a bird. Like electricity. Yeah, like electricity.“

Der phänomenale Jamie Bell, bei den Dreharbeiten gerade erst dreizehn Jahre alt, vermittelt diese Gefühle völlig authentisch. Die Beziehung zu seinem Vater, wunderbar von Gary Lewis dargestellt, dieses Aufeinander-Zugehen in der Akzeptanz des eigentlich Unverständlichen, dieser Sieg der väterlichen Liebe im Loslassen-Können, das sind für mich die rührendsten Momente des Films. Dass dies nicht nur dem Vater, sondern auch Billys Bruder Tony gelingt, erweist sich als wahre Qualität der Familie. Eines Tages findet Billy den ersehnten Brief von der Ballettschule auf dem Küchentisch und die gesamte Familie um diesen versammelt. Der Junge bringt es nicht über sich, den Brief vor ihnen zu öffnen, er zieht sich damit in sein Zimmer zurück. Aus seinem Mienenspiel ist nicht eindeutig zu sagen, ob das Schreiben für ihn erfreulich ist. Schließlich sitzt Billy tränenüberströmt da und kann es selbst kaum glauben: „I got in.“

Alexander von Humbolt, der große Reisende, Geograf und Forscher, verließ einst das ihm als zu eng erscheinende Berlin, um seinen Lebenstraum wahr zu machen, er brach in die Welt auf, die er mit eigenen Augen sehen wollte, um sich seine ganz persönliche Weltanschauung bilden zu können. Billy Elliot ist eine sanfte Coming-of-Age-Geschichte mit liebevollen Charakterzeichnungen, die den sozialen Realismus der Arbeitskämpfe als Basis für ihre märchenhafte Überhöhung einer Reise zum wahren Selbst nützt. Die Titelfigur verlässt den grauen Norden Englands und macht sich auf ins weite Land ihrer Zukunft. Es ist herzzerreißend, Billy dabei zuzusehen, wie die Angst vor dem Unbekannten immer mehr in den Hintergrund tritt und die Neugier auf das Neue Überhand gewinnt. In der finalen Szene des Films tanzt Billy als Erwachsener in Schwanensee, dessen Musik schon früher den Film durchzogen hat, er ist angekommen an einem Punkt, an dem seine Träume nicht länger Fantasie, sondern Realität geworden sind. Das Bild friert ein und geht über in das des springenden, tobenden, lachenden Jungen von früher, der noch nicht weiß, welche Möglichkeiten sein Leben für ihn bereithalten wird, der einfach den Augenblick genießt und daran seine reine Freude hat.