Boys Don't Cry (USA 1999)
In dem Song „Lola“ erzählen die Kinks davon, wie einem Biedermann Verwirrendes passiert. Das Lied entführt uns in einen Londoner Club im verruchten Soho von 1970, wo oft nicht klar ist, welchem Geschlecht die Gäste zuzurechnen sind: „Girls will be boys and boys will be girls, it’s a mixed-up world, it’s a shook-up world, except for Lola.“ Amüsanterweise entpuppt sich alsbald gerade diese Lola als Transvestit „who walks like a woman and talks like a man.“ Eine moderne Lola verkörpert Chloë Sevigny in der TV-Miniserie Hit & Miss (2012). Sie ist die transsexuelle Auftragskillerin Mia, der die Morde, die sie stets mit Präzision ausführt, weniger Probleme bereiten als die fluchtartige Reaktion der Männer, mit denen sie intim wird. In Kimberly Peirces Independent-Drama Boys Don’t Cry spielt Sevigny das Mädchen Lana, das sich in einer amerikanischen Kleinstadt in einen Jungen namens Brandon Teena verliebt – ohne zu ahnen, dass dieser als das Mädchen Teena Brandon geboren wurde.
In einem dreijährigen Prozess der Suche nach dem/der perfekten Hauptdarsteller*in wurden angeblich auch mehrere Transpersonen gecastet, die Rolle ging aber schließlich an Hilary Swank, die für ihre brillante Darstellung des Brandon einen Oscar gewann – die Sensibilität und die Dünnhäutigkeit ihrer Figur sind wahrlich herzzerreißend. Eine reale und deshalb umso schrecklichere Geschichte: Brandon, der keine junge Frau mehr sein möchte, bewahrt seine Transsexualität für sich und wagt den Versuch eines Neuanfang in der Provinz. Er kleidet und gibt sich männlich und findet in einer jugendlichen Clique den ersehnten Rückhalt – eine, wie sich herausstellen wird, nur trügerische Sicherheit. In seiner Liebe zu Lana geht er ein Wagnis ein, das ihm bald zum Verhängnis wird. „What are you gonna tell ’em?“, fragt Brandon Lana, als sich die Situation in der Gruppe zuzuspitzen beginnt. „I’m gonna tell ’em what they wanna hear“, antwortet sie. Sie habe Brandon nackt gesehen, beteuert Lana dann im Kreis der Freunde: „I know he is a man.“
Eine unglaublich intensive und nahe gehende Szene: „What the fuck are you, you motherfucker?“, wird Brandon angeschrien. Worauf zwei der Burschen, John (Peter Saarsgard) und Tom (Brendan Sexton III), ihn ins Badezimmer drängen. Sie drücken Brendon gegen die Wand und ihm die Arme nach oben, sie schlagen ihn ins Gesicht, als er sich auf hilflose Weise zu wehren versucht. Die Kamera hält drauf, als sie ihm die Unterhose hinunterziehen. Dann zerren sie auch Lana in den Raum und zwingen sie, sich vor Brandon hinzuknien: „I’m holding you until you look.“ In diesem Moment geht in Brandon etwas vor. Seine Umgebung und die Menschen darin treten in den Hintergrund, er sieht sich nackt dastehen und gleichzeitig als einen unter denen, die ihn angewidert anstarren. Was Brandon bislang nicht wahrhaben wollte, wovor er zu fliehen versuchte – auch er ist jetzt gezwungen, hinzuschauen.
„Einst gab es unter den Menschen nicht zwei, sondern drei Geschlechter“, schreibt Platon im Symposion (ca. 380 v. Chr.), einem seiner berühmtesten Dialoge. Und er präzisiert: „Das erste war männlich, das zweite weiblich, das dritte mannweiblich.“ Wie als Illustration von Platons Gedankengut verschwimmen im faszinierenden Werk der Fotografin Del LaGrace Volcano Geschlechternormen und die Opposition von Mann und Frau. Und die Philosophin Natascha Gruver spricht von offenen und fluiden Identitätskategorien, die sich im Laufe eines Lebens auch ändern könnten. Mit einer solchen Art von Verständnis kann Brandon freilich nicht rechnen. Seine Sehnsucht danach, herauszufinden, wer er wirklich ist, seine Bereitschaft, sich trotz all der schlimmen Erfahrungen auf menschliche Nähe und Liebe einzulassen – in seiner Verletzlichkeit wird er für John und Tom zum idealen Opfer. Sie vergewaltigen ihn auf der Motorhaube ihres Wagens auf dem Gelände einer verlassenen Fabrik. Auf ihre Drohungen regiert Brandon mit dem Versprechen, zu schweigen: „This is all my fault.“ Ein Funke Hoffnung keimt auf, als er seinen zerschundenen Körper später in Lanas Arme legt. „We can still do it“, hängt Lana der Vision eines gemeinsamen Lebens selbst noch in dem Moment nach, als John Brandon mit der Pistole in Schach hält. Brandons und Lanas Blicke treffen sich und wollen voneinander und von dieser wunderbaren Vorstellung nicht lassen. Doch da richtet John die Waffe gegen Brandons Hals und drückt ab. Diese Szenen gehen unter die Haut, sie machen die Verletzungen an Leib und Seele, die Brandon erdulden muss, auf eine Weise spürbar, die beim Zuschauen geradezu weh tut.
Welche Art von Mädchen Brandon denn früher gewesen sei, wollte Lana einmal von ihm wissen. Zuerst eine Art „girl girl“, hat Brandon überlegt, und dann später ein „boy girl“. Und dann, als er sie kennenlernte, habe es begonnen, sich richtig anzufühlen. Doch der Hass dem gegenüber, was man nicht verstehen kann oder will, hat seiner Geschichte ein Ende gesetzt. Im Film, und – schockierenderweise, denn bei der Geschichte handelt es sich um die Adaption eines realen Kriminalfalles – auch im wirklichen Leben.