Cabaret (USA 1972)
Innerhalb weniger Momente kippt die Normalität ins Surreale und gerät die Biergartenseligkeit im Gasthaus Waldesruh zum apokalyptischen Horrorszenario, das den Untergang einer ganzen Epoche heraufbeschwört. Ein blonder Junge beginnt zu singen. Er singt von sommerlich warmem Sonnenschein und Hirschen, die frei durch den Wald laufen, von grünen Lindenblättern und dem golden glänzenden Rhein auf seinem Weg zum Meer, und seine Wangen sind gerötet vor Begeisterung, wenn er zu den Zeilen „tomorrow belongs to me“ optimistisch in die Zukunft blickt. Doch auf einmal zieht sich die Kamera aus der Großaufnahme zurück und gibt den Blick auf das krasse Gegenteil des Idylls frei, auf die Uniform des Burschen und die Hakenkreuzbinde an seinem Ärmel, und das weiche Bubengesicht wird zu einer hässlichen Fratze, wenn er vom Vaterland singt, das ihm und anderen Kindern ein Zeichen geben wird – der Morgen werde kommen, kriegen wir zu hören, an denen ihnen nichts weniger als die Welt gehört. Die Gäste im Gastgarten, die eben noch friedlich in der Sonne saßen und ihr Bier tranken, reißt es mit und von ihren Sitzen, und mit verzerrten Gesichtern schmettern sie gemeinsam ihre Kriegserklärung an die Welt. Als der blonde Junge sich die Kappe auf den Kopf setzt und die Hand zum Hitlergruß erhebt, steht dazwischen das Mephistogrinsen des Conferenciers im „Kit Kat Club“, der im Berlin der frühen Dreißigerjahre die dunklen Zeichen der Zeit zu deuten weiß.
Natürlich ist Liza Minnellis Darstellung in Bob Fosses Adaption des Broadway-Musicals Cabaret schlichtweg fulminant. Als Sängerin Sally Bowles träumt sie von einer Karriere als „richtige“ Schauspielerin und sieht sich in eine Dreiecksbeziehung mit dem jungen Schriftsteller Brian (Michael York) und dem reichen Lebemann Maximilian (Helmut Griem) gezogen. Ihre Interpretation der Musiknummern wie „Money, Money“ (zusammen mit dem diabolischen Joel Grey), „Maybe This Time“ und natürlich auch des Titelsongs haben sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Die Bilder aber, die uns Fosse zu „Tomorrow Belongs to Me“ zeigt, treten aus dieser Geschichte heraus und tun schlicht und einfach weh. Es ist die Diskrepanz zwischen der lieblichen Melodie und der Unschuld, die der jugendliche Sänger anfangs ausstrahlt, einerseits und der Verderben bringenden Botschaft des Stücks andererseits, der Gegensatz auch zwischen dem Hitlerjungen, der davon überzeugt zu sein scheint, dass ihm die Zukunft gehört, und einem davon angewiderten alten Mann, der in dieser Zukunft nichts mehr zu sagen haben wird, die grell vor Augen führt, dass das Leben Vieles sein mag, ganz sicher aber kein Cabaret. Das gespenstische Crescendo, in das sich das Lied im Biergarten schließlich steigert, mündet in unserer Vorstellung direkt in die Bilder, die wir als Konsequenz des Ganzen kennen, in das Feuer von Kanonen und die Explosion von Bomben und die Leichenberge in den Lagern.
In Charlie Chaplins Der große Diktator (1940) vollführt der Despot Hynkel zu lieblicher Musik seinen perversen Tanz mit einem Globus und bringt ihn schließlich zum Platzen. Es ist kaum zu glauben, aber akribisch geführte Listen belegen, dass Hitler Chaplins Weltzerstörungsballett sogar zweimal für Vorführung auf seinem Berchtesgadener Berghof orderte. Ob er den Film tatsächlich je angeschaut hat, ist nicht überliefert; dass Hitler über Chaplins Scherze lachen konnte, kann man sich aber beim besten Willen nicht vorstellen. In Mel Brooks’ Frühling für Hitler (1968) tanzt eine Chorus Line in Dirndl, Lederhosen und Brezelkostümen über die Bühne und schmettern ihre Drohungen von einem Deutschland ins Publikum, das wieder selbstbewusst und „happy and gay“ ist und in immer schnellerem Tempo die Welt überrennt: „Watch out, Europe, we're going on tour!“ Hier werden der Zeit des Nationalsozialismus Zerrspiegel vorgehalten, hier wird der Zweite Weltkrieg zur sarkastisch-überzogenen Farce, bei der uns das Lachen im Halse stecken bleibt.
Die Szene im Gastgarten in Cabaret jedoch agiert aus dem Hinterhalt, sie pirscht sich an uns heran und überwältigt uns dann mit ihrer perfiden Heimtücke. Bevor der Junge zu singen begonnen hat, hat Brian Maximilians Zigarette angezündet und dabei vielsagend seine Hand gestreift, jetzt suchen die beiden in ihrem Wagen kopfschüttelnd das Weite. Am Ende des Films verlässt Brian Sally und Berlin; hinter ihm rollt bereits die braune Welle, die alsbald die halbe Welt mit sich reißen wird. Das Morgen, von dem der Junge im Gastgarten gesungen hat, ist nämlich nur allzu bald zur schrecklichen Gegenwart geworden.