Dreiecksbeziehungen

Cocktail für eine Leiche (Rope, USA 1958)

Die Vögel (The Birds, USA 1963)

 

Wenn wir über Suspense reden, müssen, nein dürfen wir uns natürlich auch und in erster Linie mit Alfred Hitchcock befassen. Seine Handschrift beim Aufbau von Spannung ist bis heute unerreicht, wobei sich in diesem Sinne zwei häufig eingesetzte Stilmittel ergänzen. Der Wissensvorsprung der Zuschauer den Akteuren im Film gegenüber, was das Näherkommen des Mörders, das Heranpirschen des Unheils betrifft, steigert die beklemmende Stimmung. Die visuelle und oft dialogfreie Erzählweise verstärkt dabei die Konzentration auf die bedrohlich-unheilvolle Handlung. Wie einen Gewitterregen, der aus der brütenden Schwüle davor bricht, empfinden wir die plötzlichen Schockmomente, die Hitchcock wohldosiert setzt, fast als eine Art von Erlösung – zumindest, nachdem der erste Schrecken überstanden ist.

Eine Schlüsselszene des Tierthrillers The Birds nach der Kurzgeschichte der Rebecca-Autorin Daphne du Maurier mag dafür als Beispiel dienen. Melanie Daniels, gespielt von Tippi Hedren, einer von Hitchcocks favorisierten Blondinen, wartet vor der Schule des kleinen Küstenortes Bodega Bay auf den Beginn der Pause. Sie nimmt im schmucken Kostüm auf einer Bank Platz, hinter der sich ein Spielplatz mit einem Klettergerüst befindet. Sie zieht ihr Zigarettenetui aus der Handtasche, in Schnitt und Gegenschnitt sehen wir die rauchende Frau und das Gerüst, auf dem sich zuerst eine Krähe und dann immer mehr der schwarzen Vögel niederlassen. Entfernt zu hören ist nur das Lied der Schulkinder, ein beinahe einlullender Singsang. Das Klettergerüst füllt sich schnell, Melanie hat davon nach wie vor keine Ahnung. Da bemerkt sie einen heranfliegenden Vogel und folgt ihm argwöhnisch mit den Augen. Erst jetzt erkennt sie die drohende Gefahr in ihrem Rücken mit stummer Panik.

Für Massenszenen wie diese wurden beim Dreh echte Tiere mit Nachbildungen ergänzt oder – wie in der Schlussszene mit dem von tausenden Vögeln umzingelten Haus – technisch dupliziert. Unter den Vögeln auf dem Klettergerüst bei der Schule befanden sich zum Beispiel nur einige lebende Exemplare. Auch bei der herrlich choreografierten Angriffsszene von Möwen auf das Städtchen funktioniert das Prinzip von Suspense. Wie aus dem Blickwinkel eines der Vögel sehen wir die Gebäude, Fahrzeuge und Menschen zuerst aus der Luft – eine fast unschuldige Einstellung, die dann rasch in die harsche Wirklichkeit katapultiert wird, wenn immer mehr Möwen ins Bild fliegen und, Kamikazepiloten gleich, zum Sturzflug auf ihre Opfer ansetzen.

Über die Hintergründe der Vögelattacken und den offenen Ausgang des Films werden seit seinem Erscheinen die vielfältigsten Mutmaßungen angestellt. Einleuchtend erscheint die Interpretation des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek. In seinen kulturkritischen Texten kümmert sich Žižek um Identitätsbildung im Verhältnis des Einzelnen zum Geflecht aus gesellschaftlichen Verhältnissen und Einfluss nehmender Ideologien. Von größtem Interesse sind dabei die Bezüge zu den psychischen Konstellationen des Unbewussten, in deren Untersuchung sich Žižek eben auch ausführlich mit dem Werk Alfred Hitchcocks befasste (Warum greifen Vögel an?, 2002).

Das Charakterdreieck zwischen der verwöhnten Millionärstochter Melanie, Mitch (Rod Taylor), dem Mann, der ihr Interesse sosehr geweckt hat, dass sie überhaupt nach Bodega Bay gekommen ist, und dessen Mutter Lydia (Jessica Tandy) lässt höchst interessante Schlussfolgerungen zu. In der Untersuchung der intersubjektiven Beziehungen dieser drei Figuren entdeckt Žižek den Schlüssel zum Verständnis der Vögel. Diese würden demnach „den tiefen Missklang, die Störung, das Entgleisen dieser Beziehungen“ verkörpern. Im Film wird die ödipale Dimension mehrmals explizit angesprochen. „Die Vögel sind in dem Film wie die Plage in Ödipus' Theben: Die Inkarnation einer tiefen Störung der familiären Beziehungen – der Vater ist abwesend, die väterliche Funktion (die Funktion des befriedenden Gesetzes) ist außer Kraft gesetzt. Dieses Vakuum füllt das ‚irrationale‘ mütterliche Über-Ich, das tyrannisch und boshaft jede ‚normale‘ sexuelle Beziehung verhindert.“ Auch die Fluchtszene am Ende des Films visualisiert diese Interpretation: Lydia hat Melanie, ihre Konkurrentin in der Liebe zu ihrem Sohn, endlich akzeptiert und ihren Sohn für sie frei gegeben – und nun greifen die Vögel auch nicht mehr an.

Ein anderer Film, ein weiteres Meisterwerk, wie in einen einzigen großen Spannungsbogen gegossen, und neuerlich ein Dreieck der Charaktere. John Dall und Farley Granger spielen in Cocktail für eine Leiche zwei junge Männer, Brandon und Phillip, die zusammen ein Apartment mit Blick auf die Skyline von Manhattan bewohnen. Als Motivation für einen Mord, das werden wir erkennen, dient ihnen ausschließlich die intellektuelle Herausforderung. James Stewart als ihr ehemaliger Lehrer Rupert ist einer der Gäste einer kleinen Party, die am selben Abend in der Wohnung stattfindet. Während vor den Panoramafenstern über der Skyline Manhattens die Nacht hereinbricht, kommt ihm die ganze Sache bald seltsam vor, was schließlich zur Auflösung des Verbrechens führen wird. Die homosexuellen Bezüge innerhalb dieser Figurenkonstellation konnten damals aufgrund des so genannten „Hays Code“, der Zensur, der alle amerikanischen Produktionen unterlagen, nicht eindeutig gezeichnet werden, sind aber als klarer Subtext lesbar.

Zu Beginn der Handlung sind wir Zeuge, wie Brandon und Phillip ihren ehemaligen Klassenkameraden David zu Tode strangulieren und seinen Leichnam in einer Truhe verstauen, auf der im Folgenden das Buffet der Party aufgebaut wird. Der Film, eine Adaption des Theaterstücks Rope (1929) von Patrick Hamilton, bezieht sich auf einen Mordfall, der 1924 die Vereinigten Staaten erschütterte. Nathan Leopold und Richard Loeb, zwei Studenten an der University of Chicago, beide hochintelligent und aus wohlhabenden Familien, schlugen den vierzehnjährigen Bobby Franks mit einem Meißel nieder und erstickten ihn anschließend. Um die Identifizierung zu erschweren, verätzten sie sein Gesicht mit Säure, bevor sie ihn in einem Graben unterhalb von Eisenbahnschienen versteckten. Im Wahn von Übermenschen im Sinne Nietzsches hatten Leopold und Loeb, wie sie bald nur noch genannt wurden, den Ehrgeiz, ein perfektes Verbrechen zu verüben: Sie betrachteten ihre sinnlose Gewalttat als Akt der Kunst.

Eine bestimmte Szene aus diesem brillanten Film herauszugreifen, ist sinnlos. Wir haben hier ein Werk wie aus einem Guss vor uns wie zuletzt vielleicht nur Alfonso Cuaróns Gravity (2013). Hitchcocks erster Farbfilm ist wie auch Das Rettungsboot (1944) und Das Fenster zum Hof (1954) an einem einzigen Schauplatz festgemacht und verhandelt so konsequent wie sonst keiner seiner Filme die Einheit von Ort und Zeit. Hitchcock wollte den Anschein erwecken, als sei der Streifen in einer einzigen, durchgehenden Einstellung in Echtzeit gedreht worden. Da aber eine Filmrolle in der Kamera damals nur zehn Minuten festhalten konnte, waren Schnitte unvermeidbar. Hitchcock setzte nicht mehr als zehn davon ein, darunter auch solche, die nahezu unmerklich verborgen bleiben. Bei einem solchen sogenannten „masked cut“ fährt die Kamera etwa auf den Anzug eines Schauspielers zu, der für einen Moment das gesamte Bild schwarz ausfüllt; die nächste Szene beginnt dann mit dem Zurückfahren von eben diesem Motiv.

Durch diese ausgeklügelte Erzählweise entsteht eine unnachahmliche Eleganz im Fluss des Handlungsverlaufes. Hitchcock erzielt eine Schnörkellosigkeit, die die theatralische Abgehobenheit des Schauspiels in den Bahnen von in der Realität verankertem Suspense hält. Scharfer Wortwitz kennzeichnet die Dialoge, die Kamera bewegt sich wie eine weitere Person in den Räumen der Wohnung, zuweilen scheint sie die Worte der Charaktere zu kommentieren. In den langen Takes ist uns, als würden wir uns selbst im Raum befinden und die Szenerie erkunden, als wären wir Gäste auf dieser Party mit der seltsam geheimnisvollen Atmosphäre. Auf diese Weise wird große Spannung aufgebaut: Zum Beispiel in der Einstellung, in der die Haushälterin mehrmals zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her geht, um das Geschirr und Leuchter vom Buffet abzuräumen – beim Zurückkommen trägt sie immer jene Bücher in den Armen, die, das wissen wir, in der Truhe verstaut werden sollen, in der ja die Leiche liegt. Aus Details wie diesen erzeugt Hitchock seinen unvergleichlichen Gänsehautthrill.