Trilogie des Bösen

Das Cabinet des Dr. Caligari (Deutschland 1920)

M - Eine Stadt sucht einen Mörder (Deutschland 1931)

Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens (Deutschland 1922)

 

Die akademische Diskussion, ob denn der filmische Kanon der Weimarar Republik als Vorbote ihres Endes und in dieser Denkrichtung als Vorahnung der kommenden Schrecken des Nationalsozialismus zu verstehenen sei, begründet sich in erster Linie auf die Studie Von Caligari zu Hitler (1947) von Siegfried Kracauer, dem, wie er einmal bezeichnet wurde, „Psychoanalytiker der Filmliteratur“. Kracauers These von deutschen „Kollektivdispositionen“, die sich in einer gewissen Neigung zum Morbiden und Makabren offenbart hätten, erfährt in der genaueren Betrachtung zahlreicher wesentlicher Werke der Zwischenkriegszeit Bestätigung, sah sich immer wieder aber auch heftigstem Widerspruch ausgesetzt. Unbestritten ist der ästhetische und filmhistorische Wert einiger der Einträge dieser Stilepoche und ihres Einflusses auf das Weltkino. Die Ideen Sigmund Freuds, die Analyse psychischer Traumatisierungen betreffend, stellen denn auch das Grundgerüst für eine Trilogie des Bösen dar, die uns selbst ein Jahrhundert später das Gruseln zu lehren vermag. „So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, mein eigentliches Element.“ – Die Worte von Mephistopheles in Goethes Faust als Botschaft aus einer Zeit, deren Parameter und Innovationen wie kaum eine zweite die Geschichte filmischen Schaffens beeinflusst hat.

Nähern wir uns der Angelegenheit unter Beachtung der Chronologie. Es ist die expressionistische Gestaltungsweise, die dem psychologischen Thriller Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene seinen unverwechselbaren Look gibt. Die groteske Verzerrung der gemalten und gebauten Kulissen, das Spiel von Licht und Schatten, das extreme Kontraste erzeugt und in den Figuren und auch in uns ein Gefühl der Verlorenheit und des Ausgesetztseins in einer Welt hervorruft, die keinerlei Sicherheit vermitteln kann, da sie aus den Angeln gehoben scheint – diese Bilder haben sich in unsere Vorstellung effektiven Spannungskinos eingebrannt.

Die Handlung des Films, ein perfekt verschachteltes Verwirrspiel, dreht sich um Cesare, einen von Conrad Veidt dargestellten Somnabulen, also einen Schlafwandler, der vom titelgebenden Dr. Caligari (Werner Krauß) als Jahrmarksattraktion angepriesen wird. Nachts aber begeht er Morde in einer Stadt, deren Szenerie einem irren Gruselkabinett ohne rechte Winkel ähnelt, einem Ort, an dem das Auge und auch der menschliche Geist keine Anhaltspunkte und keinen Halt zu finden vermögen. Der Autor Hans Janowitz betonte die Symbolkraft dieser beiden Figuren in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg; Caligari, so Janowitz, würde die Obrigkeit des deutschen Kaiserreichs verkörpern, während Cesare als Repräsentant der zum Morden abkommandierten Untertanen stehe.

Wie dem auch sei, es sind die geradezu ikonenhaften Bilder, die uns nicht kalt lassen. Schon die Momente, in denen Cesare zum ersten Mal die Augen öffnet, dieser weit aufgerissene Blick des Horrors, wie er dann die ersten zaghaften Schritte aus dem aufrechtstehenden Holzsarg geht, der ihm als Schlafstatt dient, all das Leid, das darin liegt, lassen uns in die Tiefen dieser geschundenen Seele blicken. Und dann die Szene, in der Cesare in die Wohnung einer Frau namens Jane (Lil Dagover) eindringt. Er nähert sich der Schlafenden auf ihrem Bett und hebt schon das Messer zum tödlichen Streich, da hält er plötzlich, von ihrer Schönheit schier überwältigt, inne. Jane erwacht und erschrickt, ihr Schreien weckt die Hausgenossen. Cesare packt sie und zieht sie an sich, da wirken die Bettlaken zu ihrem Nachthemd wie die Schärpe zu einem Hochzeitskleid. Cesares Flucht als Scherenschnitt über den Dächern der Stadt, die Verfolgung ähnelt jener des Lynchmobs, der Frankensteins unglücklicher Kreatur auf den Fersen ist.

Wiene setzt zum Schluss einen Kunstgriff, den man heute als Plot-Twist bezeichnen würde; erst jetzt erfahren wir, dass die Rahmenhandlung, die zu Beginn des Films geöffnet und nun wieder aufgenommen wird, in einer Irrenanstalt spielt und die gesamte Erzählung um Cesare und seine Morde aus der Sicht der Insassen entwickelt wurde – die verunsichernde Ambivalenz eines alptraumhaften Fantasmas. Sie bezichtigen ihren Direktor, der Dr. Caligari aus der geschilderten Geschichte zu sein. Die Schlussfolgerung des zeitkritischen Konnexes dieses Irrsinns mit dem Aufkommen des Faschismus und der heraufdräuenden Diktatur – die NSDAP wurde im Entstehungsjahr des Films gegründet – scheint inhärent logisch. Der Wiener Gerichtspsychiater Reinhard Haller spricht von einem „Code des Bösen“, Angst und Unbehagen vor den schwarzen Löchern der eigenen Seele seien es, welche die Lust des Publikums an Geschichten nähre, die sich damit auseinandersetzen. „Gerade weil das Böse so bedrückend und bedrohlich, so unbegreiflich und schwer beschreibbar, so weit weg und doch jedem so nah ist, übt es eine starke Faszination aus. Dies hat nicht nur mit Sensationsgier zu tun, sondern mit dem Wunsch, möglichst alle Seiten des Menschen kennenzulernen, den Blick auf jene Seite der Seele, die man als deren Abgründe bezeichnet, zu werfen und dem Unbeschreiblichen ein Gesicht, einen Namen zu geben. Bislang Unbekanntes und Unbenanntes zu Sprache zu bringen bedeutet, die Angst davor zurückzudrängen.“

Die Intensität der Bilder, wenngleich wesentlich naturalistischerer Natur als jene von Robert Wienes Streifen, ist es auch, die Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu, der nicht autorisierten Adaption von Bram Stokers Roman Dracula (1897) und einem der ersten Vertreter des Horrorfilms überhaupt, zum zeitlosen Meisterwerk mit immensem Einfluss auf das gesamte Genre macht. Es geht um den Grafen Orlok, einem in den Karpaten wohnhaften Vampir. Der Schauspieler Max Schreck kreierte mit seiner hageren Buckelgestalt, der riesigen Hakennase, den stechenden Augen unter buschigen Brauen, den spitzen Ohren, klauenartigen Fingern und langen Fingernägeln einen Unhold von wahrhaft scheußlichem Aussehen und unfassbar-dämonischer Ausstrahlung. Dass Tim Burton dem Gegenspieler des Titelhelden in Batmans Rückkehr (1992) den Namen Max Shreck gab, darf als Referenz verstanden werden. Orlok jedenfalls entbrennt in Liebe und Begierde zur schönen Ellen (Greta Schröder), der Frau des jungen Maklers Thomas Hutter (Gustav von Wangenheim), der aufgrund möglicher Immobiliengeschäfte in Orloks Schloss weilt. Kaum ist der Graf Ellen auf der Abbildung in einem Medaillon ansichtig geworden, bereitet er auch schon die Reise in ihre Heimatstadt Wisborg vor. Diese geht auf einem von Ratten verseuchten Schiff vor sich; nach und nach macht sich Orlok über die gesamte Besatzung des Schiffes her. Die Szene, in der er steif wie ein Brett aus seinem Sarg aufsteht, auch seine Gestalt auf dem Deck und wie das Schiff langsam in den Hafen einfährt und daraufhin die Ratten ausströmen, der Schrecken der Pest, die sie über den Ort bringen, diese Heimsuchung von alttestamentarischen Ausmaßen – wer die Bilder dieser Gänsehautmomente einmal gesehen hat, wird sie nicht mehr vergessen können und auch nicht wollen.

Unübertroffen ist die Szene, in der sich der Unhold in Ellens Kammer stiehlt. Wir sehen an der Wand des Stiegenhauses seinen Schatten die Treppe hinaufsteigen und die Hand nach der Tür ausstrecken. Ellen weicht auf ihrem Bett zurück und hält sich mit verkrampftem Körper die Hand ans Herz. Es sind abermals der Schattenarm, der sich über ihr weißes Kleid hoch bewegt, und die Schattenfinger, die nach ihrer Kehle greifen. In der nächsten Einstellung ist Orlok noch über die junge Frau gebeugt, beim ersten Hahnenschrei schreckt er hoch. Die Selbstvergessenheit beim Saugen ihres Blutes, diese Extase, die damals nur Ahnung bleiben musste, weil ihre explizite Darstellung wohl sämtliche Grenzen des Zeigbaren überschritten hätte, kostet dem fast Unsterblichen schließlich das Leben. Am Fenster holt ihn das Sonnenlicht ein, Orlok löst sich auf in Nichts, zurück bleibt lediglich ein wenig Rauch am Boden. Viele Jahrzehnte später wusste Werner Herzogs Nosferatu – Phantom der Nacht (1979), die Neuverfilmung des Stoffes mit Klaus Kinski in der Titelrolle, außer zu vielen Worten nichts hinzuzufügen.

Fritz Lang hingegen verstand es, die vier Jahre zuvor aufgekommene Innovation des Tonfilms in seinem Kriminalthriller M auf brillante Weise einzusetzen. Die charakteristisch weiche, säuselnde Stimme des Hauptdarstellers Peter Lorre und das musikalische Leitmotif des Films schaffen eine unnachahmliche Atmosphäre der latenten Bedrohung und der Angst. „Du hast aber einen schönen Ball. Wie heißt du denn?“ Diese im Grunde unverfänglichen Worte, dazu der Schatten des Profils eines Mannes auf einer Litfasssäule, gegen die die kleine Elsie ihren Ball wirft. Auf der Säule ein Plakat, das über die Belohnung für Hinweise bei der Suche nach einem Kindermörder informiert. Mehr braucht Fritz Lang in der Anfangssequenz des Films nicht und uns wird schon mulmig zumute. Langs Mittel sind bewusst sparsam, jedoch immens effektiv: Die Unruhe von Elsies Mutter, als ihre Tochter nicht zur gewohnten Zeit heimkommt und ihr indessen der Unbekannte einen Ballon kauft, ihre Rufe im leeren Treppenhaus und auf dem Dachboden des Mietshauses, wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt ist, die innere Kraft, die sie aufzubringen versucht, um die Angst um ihr Kind, die bereits in ihrem Herzen lauert, nicht hochkommen zu lassen, Passagen der Stille, derweil Elsies Ball übers Gras rollt und der Ballon kurz an einem Stromleitungsmasten hängen bleibt; und dazu das Pfeifen, die Tonfolge aus Griegs Peer Gynt-Suite, quasi die Kennmelodie des Mörders, der die Stadt in Schrecken versetzt. „Das Kino ist noch sehr jung, und es wäre einfach lächerlich, wenn es einem nicht gelänge, ihm ein paar neue Seiten abzugewinnen“, soll Orson Welles anlässlich der Produktion seines Films Citizen Kane (1941) einmal gesagt haben. Die Einträge in unsere Trilogie des Bösen jedenfalls sind an diesem Anspruch wahrlich nicht gescheitert.