Der Club der toten Dichter (Dead Poets Society, USA 1989)
Auf Filme, die sich um das große Thema Erziehung kümmern, lässt sich meist trefflich das oft zitierte Goethewort anwenden: „Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Klarerweise drehen sich die auf Schule umgemünzten Variationen solcher Coming-of-Age-Geschichten oft um die Beziehung von Schüler*innen und ihren Lehrer*innen. Der Schulfilm par excellence ist Peter Weirs Der Club der toten Dichter, nicht einmal Good Will Hunting (1997) und Forrester – Gefunden! (2000) reichen an ihn heran, obwohl beide immerhin von Ausnahmeregisseur Gus Van Sant, jedoch in einer eher konventionell gestrickten Phase seines Schaffens, inszeniert. Für den Komödianten Robin Williams festigte die Verkörperung des Lehrers John Keating, der die ihm anvertrauten Burschen auf einer erzkonservativen Privatschule auf den Weg zum selbstständigen Denken und individellen Handeln zu leiten versucht, den Ruf als Schauspieler mit Gespür für große tragische Rollen. Die linkische Unsicherheit der Heranwachsenden, dazu des Lehrer Keatings Appell, sich nicht um Konventionen zu kümmern und stattdessen auf die innere Stimme zu hören und die ureigensten Wünsche und Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Schlicht und einfach den Tag zu nützen, ist sein wiederholtes Motto, wenn er die Schüler etwa dazu auffordert, jene Seiten aus ihren Literaturbüchern zu reißen, die sich erdreisten, den „Wert“ eines Gedichtes in einem Graphen darstellen zu wollen. Stattdessen sollen sie Poesie in sich selbst entdecken. Die Szene, in der er den extrem introvertierten Todd (Ethan Hawke am Anfang seiner Karriere) vor der Klasse dazu bringt, seine Gefühle in Worte zu fassen, die direkt aus seinem Herzen kommen, vermag uns noch heute Gänsehaut zu erzeugen.
Besonders bei Todd und dem theaterbegeisterten Neil (Robert Sean Leonard), die beide unter der Nichtbeachtung respektive der großen Strenge von Seiten ihrer Eltern leiden, trifft er dabei auf einen wunden Punkt und den Nerv, der sie dazu bringt, ihre Prioritäten zu überdenken, ihre eigenen Möglichkeiten auszuloten und sich selbst ganz einfach mehr zuzutrauen. „Freude schöner Götterfunken“ – Schiller, Beethoven und der grenzenlose Sturm und Drang in diesen jungen Männern: Im Taumel der Musik lernen sie, sich an der überbordenden Kraft ihrer Körper, an der Frische ihres Geistes und der schieren Herrlichkeit des Lebens zu erfreuen. Neil gründet daraufhin den im Filmtitel genannten Club und es kommt zu geheimen mitternächtlichen Treffen mit der Deklamation von Gedichten, Saxofonmusik und – ganz unerhört! – sogar anwesenden Mädchen. In diesem Fall führt die Begeisterung jedoch zur Katastrophe. Nach einer Aufführung von Shakespeares Ein Sommernachtstraum, in der Neil den Puck spielt, droht ihm das Damoklesschwert von Jahren in der Militärakademie. Bewegungen wie in Trance, Bilder von abgundtiefer Verzweiflung: In der tief verschneiten Winternacht vor der Abfahrt in ein Leben, das ihm keine Hoffnung auf Zukunft lässt, steht Neil mit nacktem Oberkörper, auf dem Kopf Pucks märchenhafter Kopfschmuck, vor dem offenen Fenster und nimmt sich mit der Pistole seines Vaters das Leben.
Es gibt diese kurze Szene des Abschiednehmens in Louis Malles berührender Freundschaftsstudie Auf Wiedersehen, Kinder (1987). Der zwölfjährige Jean (Raphaël Fejtö), der als Jude in einem von Patres geführten Internat im besetzten Frankreich des Jahres 1944 Unterschlupf gefunden hat, wird nach einer Denunziation gemeinsam mit zwei weiteren Schülern und dem Leiter der Anstalt von deutschen Soldaten abgeführt. Die anderen Lehrer und Schüler sind auf dem Hof versammelt, auch unter ihnen herrscht eine Atmosphäre der Ungewissheit und der Furcht. Einer von ihnen ist Julien (Gaspard Manesse); nach anfänglichen Reibereien haben die beiden Burschen im Laufe des eiskalten Winters zueinander Vertrauen gefunden und Freundschaft geschlossen. Ein verstohlener Blick von Julien war es, der Jean im Klassenzimmer verriet, zum Abschied bleiben ihnen nur ein paar Momente, als Jean im Schlafsaal seinen Koffer packt. „Irgendwann hätten sie mich sowieso gekriegt“, versucht Jean die Schulgefühle des Freundes zu beruhigen. Nun aber, im Hof, für einen Augenblick nur, so etwas wie ganz leises Aufbegehren gegen das Unrecht. Erst einer, dann auch andere Schüler, rufen den Namen des Direktors und verabschieden sich von ihm. Dieser dreht sich noch einmal zu ihnen um und antwortet mit dem Gruß, der dem Film seinen Titel gibt. Jean ist der letzte an der Tür. Auch er wendet sich ein letztes Mal um. Julien winkt ihm mit einer versteckten Geste zu, dann packt einer der Soldaten Jean und zieht ihn mit sich. Unser Blick bleibt bei Julien, dem Tränen in den Augen schimmern, als wir von seiner erwachsenen Stimme aus dem Off von Jeans Tod in Auschwitz erfahren.
Eine Szene ähnlicher Prämisse und Gestaltung bildet das Ende von Der Club der toten
Dichter. Nicht nur in Neil, auch in Todd haben die unkonventionellen Unterrichtsmethoden des Lehrers Keating etwas bewirkt. Einmal ließ dieser die Jungen auf dem Schulhof exerzieren, um ihnen
auf diese Weise die Macht der Anpassung zu verdeutlichen, ein anderes Mal sollten sie im Sinne einer Demonstration, wie wichtig ein Perspektivwechsel sei, auf den Lehrertisch steigen und „die
Welt“ von dort oben betrachten. Als Keating nun in der Schlussszene noch einige persönliche Dinge aus seinem Klassenzimmer holen will und vom rigiden Direktor mit harschen Worten zum sofortigen
Verlassen des Raums aufgefordert wird, kann Todd die Ungerechtigkeit nicht länger totschweigen. Dass Keating zum alleinigen Sündenbock für Neils Selbstmord gemacht und der Schule verwiesen wurde,
lastet allzu sehr auf seinem Gewissen. Er steigt auf seinen Tisch und erweist dem scheidenden Lehrer, dem er so viel verdankt, vor der gesamten Klasse seinen Respekt. Zum Abschied ruft er ihm die
von Keating bevorzugte Anrede „O Captain, my Captain“ nach (ein Zitat aus einem Gedicht von Walt Whitman, das den Tod Abraham Lincolns zum Thema hat). Als der Lehrer sich daraufhin noch einmal
umwendet, schließen sich nach und nach weitere Mitschüler Todds Vorbild an, bis schließlich die halbe Klasse auf den Tischen steht. Der Direktor tobt, fordert die Schüler lautstark zum Hinsetzen
auf und bleibt doch machtlos. Unter Tränen endet natürlich auch diese Szene, nicht nur im Fall von Todd und seinem Lehrer, gerührt sind auch wir, wenn Keating seinen Schützlingen dankt und
Maurice Jarres Musik die Emotionalität in dieser Ausnahmesituation vorwärtstreibt und allen Beteiligten, jenen auf und jenen vor der Leinwand, dabei das Herz übergeht.