Die Blechtrommel (BR Deutschland/Frankreich 1979)
Ordnung, eine sogenannte bürgerliche Tugend des neunzehnten Jahrhunderts – in den Zeiten von Faschismus, Nationalsozialismus und anderer Ismen, die den Verlauf des darauffolgenden zwanzigsten prägten, wurde daraus die Bürokratisierung des geplanten Tötens. Die peniblen Aufzeichnungen in den Konzentrationslagern, der Massenmord unter dem Deckmantel von deutscher Korrektheit: Im Gleichschritt der Uniformierten und des Denkens fiel dem Vergessen anheim, was mit Anstand, mit Gewissen und Menschlichkeit zu tun hat. Eine wunderbar effektive und entlarvende Szene in Volker Schlöndorffs Die Blechtrommel, der oscargekrönten Adaption des Romans von Günther Grass, hält dieser Ordnung, die doch eigentlich nichts anderes war als das totale Chaos der Moral, einen zynisch-sarkastischen Zerrspiegel vor.
David Bennent, damals keine dreizehn Jahre alt und von beängstigender darstellerischer
Brillanz, spielt Oskar Matzerath, den Jungen mit dem titelgebeden Instrument und einer Stimme, die Glas zum Zerspringen bringen kann. Im polnischen Danzig fasst Oskar an seinem dritten Geburtstag
den Vorsatz, nicht mehr zu wachsen. Zu diesem Zwecke stürzt er sich die Kellerstiege hinunter und durchbricht so die Ordnung der Dinge, wie sie die Erwachsenen in ihrer verrückten Welt als
gegeben sehen. Was in keiner Szene des Films so deutlich wird wie bei dem Massenauflaufs der Nazis, den Oskar auf seine ganz und gar einzigartige Weise sprengt.
Vom Mund des Nazischergen bewegt sich die Kamera weg, als dieser vor den strammstehenden Soldaten, den Hitlerjungen und deutschen Mädeln seine kriegstreiberischen Phrasen drischt. „Wir wollen heim ins Reich!“, schreit er, während Oskar insgeheim durch ein loses Brett im Zaun zur Hinterseits der Holztribüne gelangt und sich bis unter das Rednerpult pirscht. „Wir Deutschen hatten schon eine Post, als der Pole noch nichts in Briefen zu sagen hatte!“, brüllt der Nazi, während die Honoratioren vorfahren. Einer von ihnen übernimmt von einem Kind einen Blumenstrauß, reicht ihn dem nächsten, der ihn seinerseits achtlos wegwirft – eine kurze Referenz an den entlarvenden Moment in Chaplins Der Große Diktator (1940), als sich dieser nach einem Lächelfoto mit einem Baby auf dem Arm angeekelt die Hände abwischt.
„Ordnung marschiert mit gewichtigen und gemessenen Schritten, Unordung ist immer in Eile“, soll Napoleon Bonaparte einmal gesagt haben. Mit soch akzentuierten Schritten nähern sich die Honoratioren nun der Tribüne, Marschmusik setzt den dazu passenden Takt. Und da beginnt Oskar zu trommeln. Er pirscht sich mit den Schlagstöcken an den Marsch heran, ist einer von vielen Musikanten, nur um sich dann auf einmal zwischen sie zu drängen – mit anderer Musik, mit einem anderen Takt, einem Walzer. Irritiert schauen die Musiker um sich, Unsicherheit macht sich breit, doch dann hat Oskar auch schon gewonnen. Donau so blau – der steife Marsch ist der Walzerseligkeit ausgeliefert, und alsbald spielen alle diesen Rhythmus, tanzen alle den Walzer, schwenken die Hitlergrußarme und die Fahnen im Dreivierteltakt.
Mit dem Aphorismus „Zeiten der Ordnung sind die Atempausen des Chaos“ räumt Oskar in dieser Szene auf. Das Chaos, das der kleine Anarchist hier stiftet, stellt die Atempause in der Ordnung des Grauens dar. Jahre später, während des Begräbnisses seines Vaters, wird Oskar beschließen, wieder zu wachsen. Er wirft seine Trommel ins offene Grab und stellt sozusagen durch seine eigene Entscheidung die Ordnung im Verlauf seines Lebens wieder her. Jene des Naziaufmarsches durcheinander zu bringen, ist ihm zuvor gelungen; all das Töten und Sterben, das damit involviert ist, kann hingegen auch er nicht verhindern.