Das Fenster zum Hof (Rear Window, USA 1954)
Ein Kuss, nein, nicht einfach ein Kuss, sondern der Filmkuss schlechthin. Es ist Abend, die Sonne ist gerade erst untergegangen und hinter den Häuserfronten rund um den Innenof leuchtet der Himmel, als würde dort irgendwo Feuer lodern. James Stewart ist in seinem Stuhl am Fenster eingeschlafen. Da fällt ein Schatten auf sein Gesicht, und da wir uns in einem Film von Alfred Hitchcock befinden, denken wir für einen kurzen Moment an eine mögliche Gefahr. Dann aber erkennen wir, dass es Grace Kelly ist, die auf ihn zukommt. Wir sehen ihr Gesicht in Großaufnahme, das blonde Haar, die rotgeschminkten Lippen, die Perlenkette, die Verkörperung einer Mischung aus Sinnlichkeit und Unschuld. Stewart öffnet die Augen, im ersten Moment weiß er nicht, wo er sich befindet, doch dann verzieht sich sein Mund zu einem Lächeln. Ganz langsam nähern sich Grace Kellys Lippen der Kamera. Francois Truffaut hat es einmal so formuliert: Es ist „dieser typische hitchcocksche Blick einer Figur, der fast ins Objektiv der Kamera geht.“ Der Blick versetzt uns in die Rolle von James Stewart, einen herrlichen Augenblick lang. Doch dann ist es natürlich doch er, der den Kuss empfängt, ganz zart und hingehaucht.
Das Thema vieler Filme von Alfred Hitchcock ist Voyeurismus, das trifft auch auf Das Fenster zum Hof zu. Die Neugier, mit der Fotograf Jeff, der mit seinem Gipsbein an den Platz am Fenster gefesselt ist und von dort aus mit dem Teleobjektiv das Leben im Hinterhof aufs Genaueste mitverfolgt, ist vergleichbar mit der des Regisseurs an den Aktionen und Reaktionen seiner Figuren. Er erfüllt das meist völlig harmlose Treiben der Charaktere mit Leben, indem er sich dazu Geschichten ausdenkt; in einem Fall vermeint er sogar, Zeuge eines Mordes zu sein. Auf diese Weise macht Jeff die Bewohner der Mietshäuser rund um den Hof zu ungewollten Mitwirkenden in dem Film, der in seiner Vorstellung abläuft. „Über die dunklen Fantasien eines kleinen, fetten Mannes“ nannte ein Kritiker einmal einen Artikel über Hitchcock. Tatsächlich gelang es dem Meister des Suspense durch Jahrzehnte, die Zuschauer zu Komplizen seiner persönlichen Obsessionen zu machen. Schon den Kuss zwischen Ingrid Bergmann und Gary Grant in Berüchtigt (Notorious, 1946) zögerte Hitchocock trickreich weit über die drei Sekunden hinaus, die Zensoren als gerade noch akzeptable Richtlinie erschien. In der damals längsten Kussszene der Filmgeschichte umging er die zeitliche Begrenzung, indem er in einer knapp dreiminütigen Sequenz die beiden, unterbrochen durch kurze Dialogsätze, sich immer und immer wieder küssen ließ, während sie sich im Apartment umherbewegten und sich während des Kusses über das Essen und die Frage unterhielten, wer den anschließenden Abwasch übernehmen sollte.
In Cinema Paradiso (Nuovo Cinema Paradiso, 1988), Giuseppe Tornatores nostalgischem Rückblick in eine Kindheit in einem sizilianischen Dorf der 1940er-Jahre, ist es die Schere im Kopf des Priesters, die den Filmvorführer Alfredo dazu zwingt, als bedenklich empfundene Kussszenen aus den gezeigten Filmen herauszuschneiden. Jahrzehnte später ist aus dem Kind Salvatore ein berühmter Regisseur geworden. Als Vermächtnis des verstorbenen Alfredo erhält er eine Filmrolle aus den zusammengeklebten Schnipseln, ein Reigen aus zweiundzwanzig magischen Momenten, den Küssen, die damals niemand sehen durfte. Ennio Morricones schwelgerische Musik liegt über diesem Spiel aus Licht und Schatten, das sich von der Leinwand in einem Vorführraum auf Salvatores Gesicht spiegelt, und sich vor seinen Augen filmische Figuren in Großaufnahmen in den herrlichsten Augenblicken der Daseinsvergessenheit verlieren.
Auch bei dem Filmkuss zwischen Grace Kelly und James Stewart in Das Fenster zum Hof können wir unsere Augen
nicht von der Leinwand nehmen. Die ungewöhnlich ruckartigen Bewegungen, wenn ihre Gesichter aufeinander zukommen, muten wie Zeitlupe an, wurden laut Hitchcock aber durch eine Art von Zittern
erreicht, „indem man die Kamera oder den Dolly oder beides zusammen vibrieren lässt.“ Dadurch wird diese seltsame Atmosphäre zwischen Wachen und Traum erzeugt, die die Szene für ein paar Momente
der Wirklichkeit entrückt. In diesen Sekunden sind wir in James Stewarts Haut geschlüpft und mit Grace Kelly allein, und sie beugt sich zu uns zu diesem endlosen wunderbaren Kuss.