Verbotene Schritte

Der einzige Zeuge (Witness, USA 1985)

 

„Es scheint gefährlich zu sein, was ich tu/Doch mein verbotenes Ziel, das bist du“, sang in den 1960er-Jahren die italienische Sängerin Mina in ihrem Schlager „Tabu“. Tabus zu brechen, stellt im Film oftmals den ersten schweren Schritt zur Erkenntnis dar, dass nur so zu sein, wie man wirklich ist, im Leben zählt – ein schmerzhafter Lernprozess mit zuweilen dramatischen Folgen, an dessen Ende im besten Fall eine Art von Erleuchtung steht. Nicht nur in Filmen aus dem queeren Genre wird für den Ausdruck solcher Selbsterfahrung des Öfteren die Metapher des Tanzes eingesetzt, etwa in einer entscheidenden Folge der Serie Queer as Folk (2000-2005) oder dem brillanten Streifen Als wir tanzten (2019). Auch in Peter Weirs Krimi Witness kulminiert diese Idee in einer wunderbar zarten Tanzszene. Harrison Ford spielt den Polizisten John Book, der Korruption in der eigenen Abteilung auf die Spur kommt und, obwohl angeschossen, dem kleinen Amishjungen Samuel (Lukas Haas mit diesen großen fragenden Augen) als titelgebendem einzigem Zeugen für einen Mord Schutz zusichert. Samuels Mutter, die junge Witwe Rachel, wird von Kelly McGillis dargestellt, sie kümmert sich um den verletzten John, was geradewegs zu diesen gefühlvollen Augenblicken in der Scheune führt.

Es ist Nacht, John hantiert im Schein einer Öllampe an seinem Auto herum, da geht auf einmal das Radio an. Book verdreht die Augen, als er Sam Cookes soulige Stimme von dem singen hört, was für ihn „a wonderful world“ bedeuten würde. Dass er nichts von Biologie, Geometrie und was sonst noch allem verstünde, meint Cooke, „but I do know that I love you.“ Kein Wunder, dass da die Gefühle zwischen Book und Rachel, die die ganze Zeit schon am heftigsten Brodeln waren, übergehen, und dies natürlich in Form eines Tanzes. Musik und Tanzen sind nichts, womit die junge Witwe Rachel in ihrem bisherigen Leben unter den Amish zu tun hatte – wie Elektrizität, Waffen und Gewalt gehören sie zu den unantastbaren Tabus der Gemeinschaft. Doch nun fasst sie der Polizist an den Händen – ein Zögern zuerst, ein gegenseitiges Abtasten mit den Augen, dann wirbelt er sie herum. Unbeholfen steigt Rachel von einem Fuß auf den anderen, da werden die beiden ganz ernst, ihre Blicke sind tief und vielsagend und fast, aber nur fast, kommt es zu einem Kuss. Denn der Schwiegervater fährt dazwischen: „Rachel, was tust du hier?“, entrüstet er sich: „Die Musik!“

Mel Gibson als Reporter im indonesischen Bürgerkrieg (Ein Jahr in der Hölle, 1982), Richard Chamberlain als Rechtsanwalt, der sich mit der Kultur der Aborigines konfrontiert sieht (Die letzte Flut, 1977), Jim Carrey als Jedermann, der erkennen muss, dass er sein ganzes Leben in der Lüge einer Reaqlityshow verbracht hat (Die Truman-Show, 1988) – die Filme des australischen Regisseurs Peter Weir verhandeln nicht selten Versuchsanordnungen über das Aufeinandertreffen sehr unterschiedlicher Lebenskonzepte und die (Un)Möglichkeit, diese mit Toleranz zu überbrücken. Die Welt der Amish ist für den toughen Cop John Book völliges Neuland. „What you take into your hand, you take into your heart“, erklärt ihm Rachels Schwiegervater seine Ablehnung von Waffen. Und beim Bau einer Scheune erlebt John, dass alle zusammenhelfen und ein ungekanntes Gemeinschaftsgefühl. Ein Auftauchen aus den eigenen Grenzen ist das und ein Eintauchen in Neues, Unbekanntes, in eine andere Lebensweise.

Dass es aber auch Angst machen kann, sich darauf einzulassen, was mit dem Überwinden von Grenzen zu tun hat, erkennt Rachel. Die Tanzszene zeigt, wohin der Schritt „from ignorance to knowledge“ führen mag. In Johns Armen hat Rachel den Apfel vom Baum der Erkenntnis gepflückt, sie hat davon gekostet, hat in sich hineingehört und dabei herausgefunden, wer sie wirklich ist. Rachel wird in einer späteren Szene die Amishhaube vom Kopf nehmen, sie wird durch die Dämmerung eines stürmischen Abends laufen, und der Polizist und sie werden einander in die Arme fallen. Die Liebesnacht, die darauf folgt, wird zu Rachels ganz persönlicher Katharsis. Der Film hält für Rachel und John kein Happy End bereit, es wird für sie keine gemeinsame Zukunft geben – zu verschieden sind ihre beiden Lebenswelten, zu gering die Schnittmenge ihrer verzweifelten Liebe. Doch nach dem spannenden Showdown, in dem die Mörder, die Samuel identifizieren könnte, die Farm stürmen, ist Rachel geläutert, sie ist unabhängiger und stärker geworden: zu einem anderen Menschen – oder zu dem, der sie eigentlich immer schon war.