Kein Freak, ein Mensch

Der Elefantenmensch (The Elephant Man, USA 1980)

 

Natürlich weckt die vermummte Gestalt die Neugier der Straßenjungen. Vorborgen unter einem Umhang und einer Art Sack mit Augenlöchern über dem Kopf, bewegt sie sich mit unbeholfenen, humpelnden Schritten und mit der Hilfe eines Stocks über den Bahnsteig. Die Kreatur darunter ist ein Mann am Ende seiner Kräfte. Er wurde aus seinem Zimmer im London Hospital entführt und musste auf Jahrmärkten auf dem Kontinent auftreten. Doch selbst dort, unter Freaks, stellte er ein solch bemitleidenswertes Bild dar, dass sich die Besucher voller Abscheu von ihm abwandten. Von dem Mann, der sich sein Besitzer nannte, getreten und geschlagen, landete er schließlich in einem Käfig, das hysterische Kreischen der Affen daneben in den Ohren. Es waren die anderen Freaks des Zirkus, die ihn befreiten und im Schutz der Nacht in einer Prozession der Unglücklichen zur Passage über den Kanal brachten.

Jetzt ist der Mann in London angelangt, und noch auf dem Bahnsteig werden die Jungen auf ihn aufmerksam. Sie beginnen, ihm zu folgen, sie sprechen ihn an, sie beschießen ihn aus kleinen Blasrohren. Der Vermummte versucht zu fliehen, doch die Jungen laufen ihm nach, es geht die Treppen hinunter, und da steht plötzlich ein kleines Mädchen vor dem, was in ihren Augen nichts anderes als ein Monster sein kann. Sie schreit auf, der geheimnisvolle Mann erschrickt und stößt sie aus Versehen nieder. Von diesem Moment an ist ihm der Mob auf den Fersen. Die Jagd wird immer wilder, die Kapu­ze rutscht dem Unglücklichen vom Kopf. Jetzt ist es für die Verfolger klar: Hier ist tatsächlich ein Ungeheuer unter ihnen. Sie treiben den Unglücklichen in die Enge einer öffentlichen Toilette, wo er zwischen den Urinalen am Boden kauert, zitternd wie ein verwundetes Tier. Und in seiner höchs­ten Not schreit er die Worte, die den Mob zum Verstummen bringen: „I am not an animal! I am a human being!“

Darum geht es in David Lynchs bewegender Verfilmung des Schicksals von John Merrick, der in Wirklichkeit Joseph hieß und von John Hurt auf grandiose Weise dargestellt wird: nicht als Freak wahrgenommen zu werden, als Schaubudenattraktion, die, je nach Be­trachter, Abscheu oder Mitleid hervorruft, schon gar nicht als Tier, als Ungeheuer, sondern schlicht und einfach als menschliches Wesen mit Träumen, Hoffnungen und Gefühlen, die von seiner Umwelt nicht unab­lässig mit Füßen getreten werden. Der durch Verwachsungen und Tumore schrecklich entstellte „Elefantenmensch“ musste Ende des 19. Jahrhunderts im viktorianischen England sein Dasein fristen. In David Lynchs Film ergeht es ihm wie der armseligen Kreatur, die Dr. Fran­kenstein aus gestohlenen Leichenteilen erschafft. Mary Shelleys Schauerroman von 1818 und James Whales Adaption von 1931, nach deren Betrachtung man sich das „Monster“ nicht mehr anders vorstellen kann als in der Maske von Boris Karloff, zeigen den titelgebenden Wissenschaftler in seinem Wahn, als „moderner Prome­theus“ Gott spielen zu können. Das Ergebnis dieses kranken Unterfan­gens ist ein Lebewesen, das nicht per se böse ist, sondern sich erst durch das Verhalten seiner Umwelt in Situationen getrieben sieht, die es zum Mörder werden lassen. Hoch oben auf der Windmühle, die der rasende Mob in Brand gesteckt hat, stirbt die Kreatur, die aus toten Teilen be­stand und nie wirklich die Chance hatte, zu leben wie jeder andere.

Anders als in Frankenstein gibt es in Lynchs Film keine Schuldzuweisungen, kein mad scientist wird verantwortlich für John Merricks trauriges Schicksal gemacht. Diese Haltung spiegelt sich auch im Protagonisten selbst wider. Im Gegensatz zu Frankensteins Kreatur ist John Merrick die Auflehnung, gar die Rebellion gegen sein Schicksal fremd. Er scheint die Reaktionen seiner Umwelt wie gottgegeben hinzunehmen und lebt zurückgezogen in seiner inneren Welt der Sanftheit und der Poesie. „Seine Schwäche ist seine Stärke. An seiner Schuldlosigkeit bricht sich die Welt.“ (Hans-Christoph Blumenberg) So sind es Begriffe wie Unschuld, Reinheit, Gnade und Erlösung, die in Bezug auf diese Geschichte vom Froschkönig fallen, dessen Seele in einer grotesken Hülle gefangen ist und doch nach nichts als Schönheit hungert.

In Peter Bogdanovichs Film Die Maske (1985) will eine Mutter (gespielt von Cher) nicht akzeptieren, dass es ihrem verunstalteten Sohn Rocky (Eric Stoltz) so ergeht wie einst dem Elefantenmenschen. Sie ist davon überzeugt, dass Rocky die Möglich­keit verdient, in Glück zu leben wie jeder sonst. Ihr Beschützerinstinkt reflektiert das Verhalten von Dr. Treeves (Anthony Hopkins) und dem der Schwestern im London Hospital, die John Merrick unter ihre Fittiche genom­men haben. Die Zärtlichkeit der Mutter ist in den Augenblicken wiedererkennbar, in der John Besuch von einer Theaterschauspielerin (Anne Bancroft) erhält und mit ihr eine Szene aus Romeo und Julia liest. Dass er kein Monster sei, stellt die Schauspielerin schließlich fest und küsste ihn auf die Wan­ge: „You are Romeo.“

David Lynch lässt sich eine halbe Stunde Zeit, bis wir die Titelfigur seines Films zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Dabei spielt er mit den Vorurteilen und Ängsten, den voyeuristischen Gelüsten, die wir Zuschauer vielleicht mit den Besuchern der Freakshow im Film teilen. Lynch zeigt seinen Unglück­lichen in dunklen Ecken auf dem Rummelplatz und als Schattenriss bei einer Vorführung der anatomischen Gesellschaft, wir hören sein röchelndes Atmen und sehen die schockierten Reaktionen in den Augen der Menschen, die ihn zu Gesicht bekommen. Dann hören wir den Schrei einer jungen Krankenschwester, die ihm Suppe bringen soll, der Teller fällt zu Boden und da kauert ein Wesen auf dem Bett, das genauso viel Angst verspürt wie die Schwester. Bald jedoch lernen wir John als intelligenten, feinfühligen und liebenswerten Menschen kennen, der die Bibel liest und in der neuen, ungewohnt fürsorglichen Umgebung Hoffnung schöpft, sich aus seinem bisherigen Leben als geprügeltes Tier aufrichten zu können.

„Die wichtigste Voraussetzung zur Zufriedenheit ist, dass ein Mensch das, was er ist, auch sein will.“, hat Erasmus von Rotterdam formuliert. Diesem Stadium des Menschseins nähert sich John Merrick am Ende des Films an, das auch das Ende seines Lebens darstellt. John agiert selbstbe­stimmter und radikaler als je zuvor, wenn er entscheidet, so schlafen zu wollen wie alle anderen Menschen. Ihm ist bewusst, dass er in aufrechter Haltung schlafen muss, weil ihn das Gewicht seines enor­men Schädels im Liegen ersticken würde. An diesem Abend ist er glücklich, er war zum ersten Mal in seinem Leben im Theater und hat sich verzaubern lassen von einem Märchenspiel, in dem sich Menschen als Tiere kostümieren. Nun setzt er den letzten Schritt seiner Menschwerdung. Er nimmt die Polster von seinem Bett und ist in rührender Weise noch auf Ordnung bedacht, als er sie auf einem Stuhl und einem Tisch platziert. Dann legt er sich ins Bett und deckt sich zu und lässt den schweren Kopf nach hinten sinken. Es ist ein Gefühl von Frieden und Zufrie­denheit, das ihn umgibt. Und als die Kamera zu Samuel Barbers Adagio über die Bilder seiner Mutter und der Schauspielerin schweift, die ihn Romeo nannte, und über das Modell einer Kirche, die er gebaut hat, und dann zum Fenster und weit in den nächtlichen Himmel hinaus und ins Weltall und direkt hinein in den Flug der Sterne, ist es nicht die Seele einer geschundenen Kreatur oder eines Monsters, sondern die eines Menschen, die in die Ewigkeit entschwindet.