Abschied

Eine Familie (En familie, Dänemark 2010)

Restless (USA 2011)

 

Ob er bei der Trauerfeier ein paar Worte sagen dürfe, hat Enoch gefragt, jetzt steht er vor Annabels Familie und Freunden, setzt zu sprechen an und bleibt doch stumm. Er runzelt die Stirn, er scheint in weite Ferne zu blicken. Auf einmal huscht ein Lächeln über sein Gesicht, denn ihm stehen die Momente ihrer kurzen Liebe vor Augen. Als ihm Annabel gesagt hat, dass sie Krebs habe und nur noch drei Monate zu leben, hat Enoch geantwortet: „A person can get a lot done in three months.“ Sie haben diese Zeit wirklich genützt, haben ihr ganzes gemeinsames Leben in diesen paar Wochen gelebt, und jetzt, in der Erinnerung, sieht Enoch nochmals, wie sie sich küssen und dabei im Regen stehen, und Nico singt dazu von vergangenen Tagen und den Veränderungen, die sie mit sich gebracht haben. Enoch, der „funeral crasher“, und Annabel, das „cancer kid“, haben sich bei einer Trauerfeier kennengelernt, in dieser Hinsicht beschreibt die Handlung des Films einen Kreis, der sich nun, bei Annables Begräbnis, wieder schließt. Was dieser Kreis umfasst, sind Szenen der Annäherung, des Sich-Öffnens, sind Momente der Liebe, der Hoffnung und Verzweiflung und schließlich des Akzeptierens der eigenen Endlichkeit und von Dingen, die man nicht ändern kann.

Kaum vorzustellen, was so manch andere Regisseure aus einem Stoff wie diesem gemacht hätten. Doch Gus Van Sant vermeidet in seiner Filmerzählung jeden Kitsch und lässt stattdessen echte Gefühle und emotionale Aufrichtigkeit zu. Stille Melancholie durchzieht diesen ruhigen, unaufgeregten, stellenweise improvisiert wirkenden und dann doch wieder streng komponierten Film, in dem die beiden Charaktere einfach sein dürfen, wie sie sind. Durch die eigenwillige Auswahl der chansonartigen Musik, die nicht minder individuelle Kleidung der beiden Protagonist*innen und das völlige Fehlen moderner Kommunikationstechnik schält Van Sant diese verlorenen Seelen aus ihrer Zeit; er versetzt sie in einen eigenartigen Schwebezustand, in dem sie auf ihre ganz eigene Art und Weise die drei Monate erleben, die ihrer Liebe vergönnt sind. Mia Wasikowska erinnert mich in ihrer blassen Zerbrechlichkeit an die junge Jean Seberg in Godards Außer Atem (1960), ihre Versuche, vom Leben loszulassen und dabei Würde zu bewahren, sind herzzerreißend. Henry Hopper ist ein linkischer junger Mann, der, ganz im Gegenteil zu ihr, lernen muss, wieder ins Leben zurückzufinden. Bei einem Unfall sind seine Eltern gestorben, er selbst lag monatelang im Koma. In ihrer Zuneigung zueinander, die sich zu echter Tiefe entwickelt, begleiten die beiden einander so lange wie möglich. Wenn sie am Grab von Enochs Eltern stehen und deren Fragen und Antworten imaginieren wie auch später in ihren Dialogen über und mit Hiroshi, dem Kamikazeflieger aus Enochs Vorstellungswelt; wenn sie sich im Leichenschauhaus Geschichten über Verstorbene ausdenken, bis Annabel unter ihnen eine Freundin aus der Krebsstation entdeckt; und wenn sie auf dem Asphalt die Umrisse ihrer Körper mit Kreide wie bei Unfallopfern nachzeichnen und Enoch dabei zum ersten Mal über den Tod seiner Eltern spricht, kommen sie einander näher und sind in einer Liebesnacht zu Halloween einander dann wirklich ganz nah. Nur zu bald jedoch erreichen sie die Kreuzung, die sie wieder auseinanderreißt, zuerst in einer gespielten Sterbeszene nach selbst geschriebenem Drehbuch, dann aber ganz real.

Das Szenario der Diagnose eines inoperablen Gehirntumors steht auch im Zentrum des dänischen Films Eine Familie. Der brillante Schauspieler Jesper Christensen (der geheimnisvolle Mr. White in den Bondfilmen mit Daniel Craig) entwirft darin das Bild des Patriarchen einer Bäckerdynastie, Rikard, der den Krebs für besiegt geglaubt hat und für den nun, nach der niederschmetternden Diagnose, allein der Bestand der Firma zu zählen scheint. Seine Tochter Ditte, die eigentlich für einen Jobwechsel nach New York ziehen wollte, sieht sich in einem Dilemma zwischen Selbstverwirklichung und Pflichtbewusstsein, das sture Festhalten des Vaters an seinen Wünschen und das Hadern mit seinem Schicksal führen fast zum Auseinanderreißen der anfangs als so ideal gezeichneten Familie.

Wir kennen solche Szenen eher aus Filmen wie 120 BPM (2017) und Serien wie dem schwedischen Drama Don’t Ever Wipe Tears Without Gloves (2012), die sich mit dem dem leidvollen Dahinsiechen und dem Sterben von Opfern der Seuche AIDS beschäftigen. Rikards langsames Sterben, das sind quälend intensive Momente des Abschiednehmens, wenn keine Kraft mehr da ist wie noch in der Szene, als er in Unterwäsche die Flucht aus dem Krankenhaus angetreten hat, keine Energie für den wütenden Kampf gegen die Windmühlen des Schicksals, für die Auflehnung gegen etwas, das man nicht ändern kann. Was bleibt, sind Rikards Röcheln und seine Schmerzen, sind die Resignation seiner Frau und seiner Kinder und ihr Warten auf den Tod. Die Kamera verharrt auf Christensens ausgemergeltem Totenkopfgesicht, auf dem kahlen Schädel, den tiefen dunklen Augen über das nötige Maß hinaus, sie gönnt uns ebenso wenig die Gnade wegzuschauen wie den Mitgliedern seiner Familie, die sich um das Bett versammelt haben. Dadurch tauchen wir tief ein in ihren Schmerz, aber auch in diesen schrecklichen Wunsch, dass endlich alles vorbei wäre. Dieser Ansatz steht in seinem schmerzhaften Realismus im direkten Gegensatz zu Van Sants märchenhaft gefärbtem Bild des sanften Hinübergleitens. Mit ergreifender Ehrlichkeit machen uns diese Minuten bewusst, was es heißt zu sterben, für den, der gehen muss, ebenso wie für die, die zurückbleiben.

In dem wunderbaren Buch Sieben Minuten nach Mitternacht (2011), das in der englischen Originalausgabe A Monster Calls heißt, beschreiben der Autor Patrick Ness und seiner Co-Autorin Siobhan Dowd, welche die Idee für die Erzählung hatte, sie wegen ihrer eigenen Krebserkrankung aber nicht mehr selbst realisieren konnte, den Loslösungsprozess eines kleinen Jungen namens Connor von seiner todkranken Mutter. Seit die Krebsbehandlung der Mutter begonnen hat, wünscht sich Connor nichts sehnlicher, als dass der Schmerz, der in seiner Seele tobt, enden möge und ihm die Sorge um die Mutter nicht mehr die Luft zum Atmen nimmt. Auch Connor hat in diesen schweren Stunden einen imaginären Freund, ein Monster, das nächtens an sein Fenster klopft, das ihm anfangs große Angst macht und dennoch für ihn der einzige Ansprechpartner ist, dem er vertrauen kann. Connor kämpft mit seinen Schuldgefühlen – wie kann er den geliebten Menschen gehen lassen, ohne sich selbst zu verlieren?

Eben dieser Lernprozess lässt Enoch in ein Loch aus Ratlosigkeit und dem Gefühl von Ohnmacht fallen, wenn Annabel gegen Ende von Restless schon sehr schwach ist. Dass sie nun bald gehen müsse, sagt sie, und in Enochs Brust schnürt sich sein Herz zusammen. Allein im Badezimmer, lässt er die Maske der Gefasstheit fallen und zum ersten Mal seine Tränen zu, da ruft sie ihn wieder zu sich. Hiroshi, Enochs imaginärer Freund, steht an Annabels Bett, hat sich in Frack und Zylinder fein gemacht. „It’s a long trip“, antwortet Hiroshi auf Enochs Frage, weshalb er denn aufgetaucht sei. „I thought she could use the company.“ Und genau diese Gewissheit, dass Annabel in ihrer letzten Stunde nicht allein war, aber auch, dass ihm selbst auf seinem Weg in eine Zukunft niemand die Erinnerung an sie nehmen kann, ist es, die Enoch bei Annabels Trauerfeier ein Lächeln ins Gesicht zaubert.