Schwarze Pädagogik

Fanny und Alexander (Fanny och Alexander, Schweden/Deutschland/Frankreich 1982)

Das weiße Band (Deutschland/Österreich/Frankreich/Italien 2009)

 

Es sind Szenen wie diese, in denen der österreichische Regisseur Michael Haneke in seinem mit der Golden Palme in Cannes ausgezeichneten Film Das weiße Band die Gefühle seiner Figuren und alles Zwischenmenschliche wie unter einer Eisschicht erstarren lässt, unter der, einem Virus oder Parasiten gleich, der leise Horror des todbringenden Kreislaufes aus Herabsetzung und Demütigung, Aufrechnung und Vergeltung zu gären beginnt. Eine Familie hat sich um den Tisch zum Abendessen versammelt, doch sie sitzen vor leeren Tellern, denn die beiden ältesten Kinder, Martin und Klara, haben sich verspätet. Mit betretenen Gesichtern stehen sie schließlich in der Zimmertür, in den Augen von Maria Dragus als Klara und Leonard Proxauf als Martin vermeinen wir aber auch so etwas wie unterdrücktes Aufbegehren zu entdecken: „Verzeihen Sie, Herr Vater.“ In Porträtaufnahmen sehen wir nacheinander die Gesichter der kleineren Geschwister und hören dazu die Stimme des Vaters. Es sei dunkel geworden, sie seien nicht aufgetaucht, weinend sei die Mutter im Dorf auf der Suche nach ihnen gewesen. Deshalb gäbe es für alle heute kein Essen. „Ich weiß nicht, was trauriger ist, euer Fortbleiben oder euer Wiederkommen.“ Sie seien wohl einer Meinung, kommt der Vater zum eigentlichen Punkt, dass dieses Verhalten nicht ungestraft bleiben dürfe, weshalb Martin und Klara am nächsten Abend je zehn Rutenschläge erhalten würden. Bis dahin hätten sie Zeit, über ihr Vergehen nachzudenken. Die Nachfrage, ob sie denn damit einverstanden wären, erhält die alternativlose Antwort: „Ja, Herr Vater.“

Die vordergründig sanfte, in seiner beruflichen Tätigkeit als Pastor geschulte Stimme des Vaters trieft vor Selbstgerechtigkeit, sie suhlt sich geradezu in der Verhöhnung der Kinder, die sich natürlich in der Position der Schwächeren befinden. In diesem Sinne stehen dieser Vater und Hanekes Szenenentwurf ganz im Rahmen des von der Essayistin Katharina Rutschky geprägten Begriffs der Schwarzen Pädagogik. Um den Menschen im Sinne der Philosophie der Aufklärung zur als oberste Maxime apostrophierten Kant’schen Vernunft zu geleiten, so argumentiert diese Theorie, müsse alles, was mit seinen Trieben, seiner Natur in Zusammenhang steht, unter Kontrolle gebracht, diszipliniert und in letzter Folge ausgemerzt werden – und da hat so etwas wie jugendliche Selbstbestimmung keinen Platz. Erziehung mit Gewalt, mit Einschüchterung und Erniedrigung mit dem Zweck der zielgerichteten Formung des Kindes – die persönliche Erhöhung des Erziehenden ist diesem Vorgehen eingeschrieben und wird im Verhalten des protestantischen Pastors, dem Burghart Klaußner sein schmallippiges Gesicht und perfides Auftreten verleiht, mit einer Direktheit gezeigt, dass uns schon beim Zuschauen Angst und Bang wird.

Die Personifikation des Stärkeren im Wahn, so etwas wie eine absolut gültige Gerechtigkeit zu vertreten – Michael Haneke stellt diese Figur ins Zentrum seines „teuflischen Kunstwerks“, wie die schwedische Zeitung „Sydsvenskan“ Das weiße Band in einer Rezension nannte. In Christian Bergers brillanter Kamerarbeit sorgsam arrangierte Bilder in Schwarzweiß führen uns in ein fiktives Dorf in Norddeutschland ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Rätselhafte Vorfälle in einer steigenden Kurve von Gewalt schüren eine Atmosphäre latenter Bedrohung. In diesem patriarchalisch regulierten sozialen Konstrukt mit seiner strengen Hierarchie sind die Schwachen Gefangene, einerseits die Bauern in ihrer Abhängigkeit vom Landbesitzer, dem reichen Baron, andererseits die einzelnen Mitglieder in den Familien von ihrem väterlichen Oberhaupt, dessen Macht über die Frauen und Kinder ähnlich unumschränkt waltet. Frustrierende Abhängigkeiten, Verachtung im Umgang miteinander, die Unterdrückung emotionaler Beziehungen – es sind Misshandlungen psychischer wie physischer Art, die dieses System zusammenhalten, letztlich aber den Nährboden für politische Katastrophen bereiten. „Es geht um ein gesellschaftliches Klima, das den Radikalismus ermöglicht“, stellte der Regisseur Haneke in einem Interview fest. „Das ist die Grundidee.“

Was den Drehbuchautor Haneke betrifft, so las er beim Schreiben nach eigenen Worten „Tonnen von Büchern über die Erziehung und das Landleben im 19. Jahrhundert“ und in diesem Zusammenhang auch von dem titelgebenden weißen Band als Symbol der Unschuld. Indem der Pastor seine Kinder zwinge, es an ihrer Kleidung zu tragen, mache er es „zur demütigenden, weil für alle sichtbaren Bestrafung“. Im Charakter des Geistlichen verdeutlicht der Regisseur den Versuch der Inszenierung des Anscheins von sittlicher Ordnung, wo die Verrohung der Gesellschaft und im Besonderen auch seines eigenen innenfamiliären Regimes nur allzu offensichtlich ist. In den Bestrafungsritualen der Kinder wird dieses Unterfangen besonders deutlich, etwa in der Szene, in der der Pastor in einem intimen Tribunal psychologischer Folter seinen Sohn Martin über das Thema der Selbstbefriedigung befragt, ohne diese beim Namen zu nennen. Dabei erweckt er in der Vorstellung des Burschen die schlimmsten Qualen. Das weiße Band um den Arm der Jacke gebunden, gibt sich Martin Mühe, Haltung zu bewahren. Der Vater füttert seinen Kanarienvogel, für den er merklich mehr echte Gefühle aufzubringen vermag als für seine Kinder, und tut besorgt – ob er denn schlecht schlafe oder Probleme in der Schule habe? Er nennt sich selbst einen Seelsorger und gefällt sich offensichtlich sehr in dieser Rolle. Er beschreibt die Merkmale einer schlimmen Krankheit an einem Buben aus der Nachbarschaft: Freudlosigkeit und Müdigkeit, dunkle Ringe um die Augen, er sei auch beim Lügen ertappt worden. In der Folge habe er den Appetit verloren, seine Hände hätten zu zittern begonnen, er habe das Gedächtnis verloren und auf Gesicht und Körper Geschwüre bekommen. Schließlich sei er gestorben: „Sein Leichnam glich dem eines alten Mannes.“ Martin steht längst als Häufchen Elend vor dem Vater, der sich nun dicht vor ihm aufbaut. Der verstorbene Bursch, so führt er seine Geschichte weiter mit sanfter Stimme aus, die Martin wie Hiebe trifft, habe sich an seinen feinsten Nerven berührt und damit nicht mehr aufhören können, und schließlich wären sämtliche Nerven seines Körpers dadurch zerstört worden. „Ich liebe dich von ganzem Herzen“, dringt der Vater in seinen Sohn, der zu keinem Wort fähig ist und am ganzen Leib zittert. Tränen rinnen Martins Wangen hinunter und der Bub bricht unter der direkten Frage des Vaters, ob er auch solche Dinge getan habe, zusammen. 

Friedrich Hegel spricht 1820 in seiner Rechtsphilosophie über Methoden, das Kind im Erziehungsprozess zu formen – so müsse ihm zunächst seine „Wildheit“ und „Rohigkeit“ ausgetrieben werden: „Ein Hauptmoment der Erziehung ist die Zucht, welche den Sinn hat, den Eigenwillen des Kindes zu brechen.“ Hegel tritt etwaigen Überlegungen, die mit einem verständnisvolleren Zugang zur Psyche der Kinder einhergehen würden, entschieden entgegen: „Hier muss man nicht meinen, bloß mit Güte auszukommen; denn gerade der unmittelbare Wille handelt nach unmittelbaren Einfällen und Gelüsten, nicht nach Gründen und Vorstellungen.“ In gerader Linie mit einem solchen Erziehungsentwurf verläuft auch die weitere Handlung der eingangs beschriebenen Szene beim Abendessen. Als Folge des Zuspätkommens von Martin und Karla schickt der Vater die Kinder hungrig ins Bett. Ehrerbietig beugen sie sich, eines nach dem anderen, zur seiner Hand, um sie zu küssen. Martin und Klara aber weist der Vater zurück: Er wolle von ihnen nicht berührt werden, denn durch die Schuld, die sie auf sich geladen hätten, wären sie unrein. Und er stellt für den kommenden Abend unbarmherzig die ihm gerecht erscheinende Strafe in Aussicht: „Eure Mutter und ich werden heute eine schlechte Nacht haben, weil wir wissen, dass ich euch morgen wehtun muss und weil uns das mehr schmerzen wird als euch die Schläge.“

In ihrer Publikation Evas Erwachen (2001) beschreibt die polnisch-schweizerische Psychologin Alice Miller ihr Verständnis von Schwarzer Pädagogik als „… eine Erziehung, die darauf ausgerichtet ist, den Willen des Kindes zu brechen, es mit Hilfe der offenen oder verborgenen Machtausübung, Manipulation und Erpressung zum gehorsamen Untertan zu machen.“ Die Züchtigung von Martin und Klara stellt sich in der verqueren Empfindung des Pastors in diesem Sinne als eine Art von Reinigung dar.  Wir befinden uns im engen Flur des Pfarrhauses, die Wände sind kahl, die Schritte hallen auf dem Holzboden. Die Mutter holt Martin zur Bestrafung aus dem dunklen Bubenzimmer im Erdgeschoß, Karla kommt auf ihren Ruf von oben die Treppe herunter. Die Kinder folgen der Mutter den Flur entlang ins Esszimmer. Die Tür wird geschlossen, nur einmal noch tritt Martin heraus und holt aus dem Arbeitszimmer des Vaters die Gerte. Dann bleibt die Tür zu und wir werden im Flur stehen gelassen. Die Stille wird von den Schlägen und den Schreien der Kinder zerschnitten; vor unserem inneren Auge spielt sich die Szene im Speiseraum in all ihrer Gewalt sehr lebhaft ab.

Wesentlich direkter inszeniert der schwedische Filmemacher Ingmar Bergman eine ähnliche Züchtigungsszene in seinem letzten Kinofilm Fanny und Alexander, der in einer fünfeinhalbstündigen Version auch als Fernsehserie gezeigt wurde. Wieder vertritt ein protestantischer Geistlicher, in diesem Fall der Bischof Vergérus (Jan Malmsjö), die richterliche und die ausführende und im Grunde genommen auch die gesetzgebende Gewalt in einer Person. Im zweiten von drei Akten aus dem Leben der Familie Ekdahl, einer Theaterdynastie im Schweden des frühen 20. Jahrhunderts, hat die noch junge Witwe Emilie (Ewa Fröling) nach dem überraschenden Tod ihres Mannes Oscar der Verheiratung mit dem Bischof zugestimmt – sehr zum Leidwesen ihrer beiden Kinder. In seiner Funktion als Direktor des kleinen Theaters hat Oscar, seine gerührten Züge meist in Großaufnahme, nach der Aufführung des Weihnachtsstücks eine Rede für die hinter der Bühne um einen Christbaum versammelten Belegschaft gehalten. Seine einzige Begabung sei, „dass ich unsere kleine Welt hier von Herzen liebe.“ Draußen, so Oscar, befinde sich die große Welt, hier drinnen das Spiegelbild ihrer kleinen, das dazu diene, die große zu verstehen. Sein Ziel sei es, die Menschen so zu verzaubern, die kalte Welt draußen für ein paar Sekunden zu vergessen: „Unser Theater ist ein kleiner Raum voller Sorgfalt, Klarheit, voller Ordnung und Liebe.“

Der etwa zwölfjährige Alexander (Bertil Guve) und seine jüngere Schwester Fanny (Pernilla Allwin) werden aus ihrer gewohnten opulenten Umgebung im großbürgerlichen Haushalt gerissen, die im ersten Akt des Films in der ungemein sinnlichen Inszenierung des Weihnachtsfestes der Ekdahls dargestellt wird, und – der Gegensatz könnte nicht größer sein – in ein lustfeindlich-asketisches Lebensfeld gestoßen. Fand ihre kindliche Fantasie vormals im episch-prallen Fresko des Lebens ihrer Onkel und Tanten, in den Geschichten von Alexanders Papiertheater und dem flackernden Licht einer Laterna Magica Nahrung, droht sie nun zu verhungern. Traum und Wirklichkeit, die Welt der Vorstellung, der Imagination mit den wiederholten Erscheinungen seines verstorbenen Vaters, und der Realität sind für Alexander eins, sie gehören für ihn zusammen, wie für einen wahren Träumer des Kinos, der auch Ingmar Bergman war; oder in den Worten August Strindbergs, aus dessen Stück Das Traumspiel Alexanders Großmutter Helena (Gunn Wållgren) gegen Ende des Films zitiert: „Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht.“ Der Bischof hingegen empfindet Alexanders selbstbestimmtes Aufbegehren als Affront gegenüber seiner väterlichen Autorität. Alexander will die Behauptung, die erste Frau des Bischofs sei mit ihren Kindern bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen, nicht zurücknehmen – was zu dieser Szene der Vollstreckung von Grausamkeit an einem hilflosen Kind führt.

Der Raum in der Bischofsresidenz wirkt wie der Ort einer Inquisition: der schwere dunkle Holztisch, die strickenden Frauen in schwarzen Kleidern zu seinen Seiten, der Bischof im ebenfalls schwarzen Talar. Er lässt Alexander auf die Bibel schwören, die Wahrheit zu sagen. Die beiden stehen einander gegenüber wie in einem Duell. Anfangs wagt der Junge noch Widerworte: „Ich glaube, dass Sie mich hassen.“ Doch die Hand des Bischofs greift wie eine Zange in seinen Nacken und legt sich ihm dann auf die Wange: „Ich hasse dich nicht. Ich liebe dich.“ Aber diese Liebe sei keine weichliche und blinde, so der Bischof, sondern stark und streng – und er sei stärker als Alexander. Darauf dieser: „Das bezweifle ich nicht.“ Nun beginnt der Bischof über die Wahrheit und das Recht zu schwadronieren, die er auf seiner Seite habe. Dabei umarmt er Alexander, als wolle er ihn zerquetschen: Er habe sein Spiel verloren. Es folgt die bereits bekannte Rechtfertigung der Gewalt durch das Argument der Errettung. Er präsentiert seinem Opfer drei Möglichkeiten der Strafe: den Rohrstock, Rizinusöl oder das Gefängnis in einem Kellergewölbe, wo Alexander nach ein paar Stunden von Ratten heimgesucht werden würde: „Die Strafe soll dich lehren, die Wahrheit zu lieben, Alexander.“

Der Bursch wählt den Rohrstock. Er folgt der Anweisung, sich die Hose hinunterzuziehen und vornüber über den Tisch zu beugen. Die Finger einer der Frauen bohren sich in seinen Nacken und drücken den Kopf nach unten. Wir sehen die Mienen von Fanny und den Frauen in Großaufnahme, als der Bischof den Buben schlägt, doch von Alexander kommt kein Laut. Als er sich auch nach dem zehnten Hieb weigert, den Bischof um Verzeihung zu bitten, folgt die Drohung, mit der Züchtigung so lange fortzufahren, bis er nachgäbe. „Du begreifst doch, dass ich dich aus Liebe gestraft habe“, gibt der Bischof von sich, nachdem er Alexanders Willen gebrochen hat; und wie der Pastor in Das weiße Band seine Kinder, zwingt er ihn, ihm die Hand zu küssen.

Michael Hanekes Geschichte einer Generation der Kinder, der von der Generation ihrer Eltern die Mitmenschlichkeit ausgetrieben wird, mündet in Ausbrüchen von Gewalt, die sich gegen den Kanarienvogel des Pastors, den Sohn des Barons, einen behinderten Burschen, den Arzt des Dorfes wendet und schlussendlich in die Gräuel des Ersten Weltkriegs mündet. Ingmar Bergmans Rückblick in die angstvollen Momente in der Kindheit von Alexander und seiner Schwester lässt die glücklichen Erlebnisse aber nicht außer Acht und endet in einem versöhnlichen Ton. Die Flucht vor dem Bischof gelingt, Emilie und ihre Kinder finden sich wieder im sicheren Hafen ihrer Familie, am Schluss steht das Fest zu einer doppelten Geburt. Ein opulentes Mahl ist angerichtet, der Tisch ist in weiß und rosa gedeckt, in zwei Wiegen liegen die kleinen Mädchen und Onkel Gustav Adolf (Jarl Kulle) hält eine emotionale Ansprache. Wie zu Beginn des Films sein Bruder Oscar im Theater, spricht auch er vom Sturm des Lebens und von Katastrophen, die zuweilen über ihre kleine Welt hereinbrechen würden. Doch in der Zuflucht, die die Familie ihnen allen biete, stünden der Genuss des sinnlichen Vergnügens und die Herzensfreude über das Essen, die Blumen, die Musik. Er nimmt seine Tochter hoch: „Ich halte eine kleine Kaiserin in meinen Armen.“ Und durch seine Worte hören wir Ingmar Bergman selbst: „Die Welt ist eine Räuberhöhle, und es wird finster zur Nacht. Die Bosheit zerreißt ihre Fesseln und streunt durch die Welt wie ein tollwütiger Hund. Die Vergiftung trifft uns alle, uns Ekdahls wie alle anderen, keiner wird verschont. (…) Das ist nun einmal so! Und aus diesem Grunde sollte man glücklich sein.“ Ein größerer Gegensatz zu den grausamen Mechanismen der Schwarzen Pädagogik als diese altersweise Lobrede auf das Leben und die Liebe lässt sich kaum denken.