Frühstück bei Tiffany (Breakfast at Tiffany's, USA 1961)
La mala educacíon - Schlechte Erziehung (La mala educacíon, Spanien 2004)
Im Werk des amerikanischen Schriftstellers Truman Capote finden wir nicht wenige Charaktere, von denen wir nach dem Studium der biografischen Hintergründe auf den Autor selbst schließen dürfen. Es sind Außenseiter und gesellschaftliche Randfiguren, die getrieben sind von der Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit und Liebe, nach menschlicher Nähe und dem Traum, von der Allgemeinheit akzeptiert und angenommen zu werden.
In diesem Sinne sind wir ganz nah bei Holly Golightly, Capotes bekanntester literarischen Figur, und dem Frühstück, das sie frühmorgens vor den Schaufenstern des Juweliers Tiffany’s auf der Fifth Avenue einnimmt. Hinter Hollys lebenslustiger und lebenshungriger Fassade, wir haben es längst geahnt, verbirgt sich ein zutiefst unsicheres, verängstigtes Geschöpf, das sich niemandem und nirgendwo zugehörig fühlt. Wann immer sie von ihren „mean reds“ gequält wird, wie sie ihre Depressionen nennt, sucht sie diesen Ort auf. So auch in der Anfangsszene von Blake Edwards’ Frühstück bei Tiffany mit der zauberhaften Audrey Hepburn in ihrer elfenhaften Schönheit. Die Straßen New Yorks sind noch verlassen, als ein Taxi hält und Holly ihm entsteigt, man kann es nicht anders nennen. In dem schwarzen Kleid von Givenchy, mit den hochgesteckten Haaren, den Handschuhen, dem Schmuck und der Sonnenbrille kommt sie geradewegs von einer der Partys, auf denen sie ihre innere Leere und ihre Lebensangst zu vergessen sucht und jene Begleiter findet, die ihren Lebenswandel finanzieren. Mit Gebäck und Kaffee besieht sich Holly den teuren Schmuck in den Schaufenstern, einmal ist ihr Spiegelbild umrahmt von den Kerzenleuchtern im Geschäft. Doch Holly muss ihren Traum woanders finden, in der Wirklichkeit, so stöckelt sie der aufgehenden Sonne entgegen, und allmählich erwacht die Stadt zu Leben.
Natürlich kann man dem Streifen seine Sentimentalität und geradezu haltlose Melancholie vorwerfen, in seiner Textur aus tragischen und komödiantischen Elementen entwickelt er aber eine leichtfüßige, von für die damalige Zeit auch zuweilen recht gewagten Dialogen getragene Wirkung, die von Henry Mancinis oscargekröntes Titellied „Moon River“ getragen wird. Von dem Mondfluss als einem „dream maker“ ist in dem Lied die Rede und von Menschen, die durch die Welt streifen und am Ende des Regenbogens echte Freundschaft zu finden hoffen. Diesen Wunsch löst der Film schließlich bei einem Kuss im Regen ein. Der spanische Ausnahmeregisseur Pedro Almodóvar hingegen verwendet in seinem Film La mala educacíon die Melodie auf ganz andere Weise. Er forscht unter der Oberfläche ihrer Süße nach den Schrecken des Missbrauchs eines Kindes.
Für ein paar kurze Momente entwirft Almodóvar die Idylle eines Sommertages. In einem katholischen Internat, erfahren wir, werden die Schüler mit den besten Noten für ihre Leistung mit einem Tag auf dem Land belohnt. Im Schilf am Flussufer spielt Padre Manolo (Daniel Giménez Cacho) Gitarre, dazu singt ein Knabe, Ignacio (Nacho Perez), mit glockenheller Stimme das erwähnte Lied. Der Pater kann die Augen nicht von dem Buben lassen, von seinen weichen, noch kindlichen Zügen und dem ernsthaften Ausdruck in den großen Augen, doch im Blick des Priesters liegen ein Begehren und eine Unruhe, die einen Kontrapunkt zu Ignacios Unschuld setzen. In Zeitlupe springen Jungen von einem Felsen ins Wasser und spritzen darin herum, andere schwimmen um die Wette, derweil singt Ignacio am Ufer von seiner Suche nach Gott und davon, dass er dabei dem Guten und dem Bösen begegnet. Dann schweift die Kamera über den Platz, wo der Pater und der Knabe gerade noch gesessen sind, dort befinden sich nur noch die Picknickkörbe und die Kleider der badenden Jungen. Die Gitarre spielt längst nicht mehr, auch der Gesang bricht jählings ab. „Nein!“, schreit das Kind und kommt aus dem Schilf gelaufen. Der Pater folgt ihm und knöpft sich noch die Soutane zu. Blut rinnt dem Jungen über die Stirn und teilt sein Gesicht in zwei Hälften. „Ich spürte, dass mit meinem Leben das gleiche geschehen würde“, hören wir aus dem Off die Stimme des erwachsenen Ignacio.
Darum geht es in Almodóvars Film: wie ein Ereignis aus der Kindheit das ganze Leben bestimmen kann. Die Geschichte läuft auf mehreren Zeitebenen ab und könnte verschachtelter nicht sein, Almodóvar löst sie aber auf virtuose Weise in ein sinnliches Spiel um Wahrheit und Lüge auf, indem im Stil eines Film noir Schönheit, Verführungskunst und das Schauspiel mit vertauschten Identitäten skrupellos zum Erreichen gesteckter Ziele eingesetzt werden. In eleganten Bildbögen voll melancholischen Schmerzes und zerbrochener Träume, zwischen Realität und Fiktion, erlebter und erzählter Wirklichkeit, wahren und erdachten Erinnerungen und Film-im-Film-Szenen ereignen sich kunstvoll miteinander verwobene Geschichten: die tragisch-herzzerreißende Liebe zweier Internatszöglinge, Erpressungsversuche, ein Mordkomplott und die Dreharbeiten zu einem Film darüber. Darin brodelt die Zerrissenheit und die Einsamkeit der Charaktere und ihre Suche nach der eigenen Identität und – darin sind sie eins mit Holly Golightly – nach etwas, das man Heimat nennen könnte.