Gilbert Grape - Irgendwo in Iowa (What's Eating Gilbert Grape?, USA 1993)
Die Geburtsstunde eines großen Schauspielers: Ich meine nicht Johnny Depp, der in Lasse Halströms unaufdringlich-skurriler Tragikomödie mit dem wie meistens wesentlich aussagekräftigeren Originaltitel What’s Eating Gilbert Grape? die eigentliche Hauptrolle spielt – bei aller Sympathie, sollte man diese aufzubringen vermögen, wäre diese Bezeichnung doch etwas übertrieben. Von wem ich hingegen spreche, ist Leonardo DiCaprio in der Verkörperung von Gilberts geistig behindertem Bruder Arnie, bei der Premiere des Streifens blutjung. Kurz zuvor war er als Robert De Niros Sohn in dem Drama This Boy’s Life, ebenfalls aus 1993, aufgefallen, für Gilbert Grape wurde er für den Oscar und den Golden Globe nominiert und stach als Ausnahmetalent aus dem druchschnittlichen Rest der Geschichte. Heute wissen wir: Tatsächlich wurde damals ein Star geboren.
Ein Setting „in the middle of nowhere“, wie es im Buche steht: „Endora is where we are“, berichtet uns Gilbert aus dem Off. „Describing Endora is like dancing with no music.“ In dieser Kleinstadt muss er als ältester Sohn nach dem Selbstmord des Vaters seine ganze Familie durchbringen, ein Unternehmen, das ihm bei allem guten Willen angesichts der Umstände zunehmend über den Kopf zu wachsen droht. Da ist die Mutter Bonnie, die mit ihren 250 Kilo Gewicht das Haus seit Jahren nicht mehr verlassen hat und zu keiner Arbeit fähig ist, da sind die beiden Schwestern, die eine versucht sich als Mutterersatz, die andere pubertiert aufs Heftigste, da ist ganz besonders auch Bruder Arnie, dessen Vorliebe im für Massenauflauf sorgenden Erklettern des Wasserturms des Ortes besteht. Das Haus ist marod, Gilberts eigene Interessen spielen eine untergeordnete Rolle, beonders der Umgang mit Arnie zehrt an seinen Kräften.
Bei Arnies Baderitual liegen Gilberts Nerven wieder einmal blank. Was in der Sichtsweise des jüngeren Bruders ein Spiel ist, eskaliert zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf Gilbert Arnie niederschlägt. DiCaprios unkontrolliert-verkrampfte Körperhaltung, sein Mienenspiel, das völlige Unverständnis der Situation, das ihn daran hindert, das Verhalten des Bruders einzuordnen, dieser Ausdruck von einem, er nicht glauben kann, wie ihm geschieht – zum Niederknien. Und nur ein Vorgeschmack auf die Szene am Totenbett der Mutter.
Bonnie wuchtet sich von dem Sofa im Wohnzimmer, auf dem sie die letzten Jahre verbracht hat, hoch und steigt unter den erstaunten Augen ihrer Kinder die Treppe hinauf. Keuchend und schweißüberströmt kommt sie oben an und sinkt auf ihr Bett. Dass sie sich ausruhen solle, raten ihr die Töchter. Arnie kommt erst später angerannt, ganz aufgeregt ob der neuen Umstände steht ihm die Freude ins Gesicht geschrieben. Er begrüßt die Mutter mit lauten Rufen, doch sie reagiert nicht. Arnie schüttelt sie: „Momma!“, ruft er. „Wake up!“ Wie in der Szene im Badezimmer ist Arnie von der ungewohnten Situation überfordert: „You’re hinding!“, schreit er der Mutter ins Ohr und abermals, dass sie aufwachen solle. Als keine Reaktion kommt, beginnt in Arnie Angst hochzukriechen, wir können es an mitansehen; er wird ganz still, schaut vor sich hin, weiß offenbar nicht, wir er sich verhalten soll. Ein Verlegenheitslächeln, das aber sogleich wieder in Verzweiflung kippt. Arnie schlägt sich selbst gegen den Hinterkopf: „Momma, stop it now!“ Und schluchzend rennt er aus dem Zimmer. Aus weiter Entfernung sehen wir dann längere Zeit das Haus, wo die anderen, alarmiert durch Arnies Schreien und Weinen, zusammenlaufen.
„Am interssantesten ist die Innenseite der Außenseiter“, hat der französische Schriftsteller Jean Genet einmal gesagt. Einen Blick in dieses Innere gewährt uns Leonardo DiCaprio als Arnie. Die Würde der Außenseiter zu wahren, darum geht es in diesem Film und darum geht es auch Gilbert in Hinblick auf seine Familie. Der Leichnam der Mutter, so erfährt er, müsste mit einem Kran aus dem Haus gehievt werden. Um sie nicht auf diese Weise der Lächerlichkeit preiszugeben, setzt Gilbert einen endgültigen und mutigen Schritt. Gemeinsam mit seinen Geschwistern räumt er die Möbel aus dem Gebäude und zündet es an. Am Ende des Films verlassen Arnie und er mit einer Wohnwagenkarawane, deren Durchzug für die Brüder schon früher ein Sehnsuchtsbild dargestellt hat, die Stadt. Ihr Weg wird sie hoffentlich an Orte führen, an denen zum Tanzen auch Musik zu hören ist.