Goldrausch (Gold Rush, USA 1925)
Der große Diktator (The Great Dictator, USA 1940)
The Kid (USA 1921)
Moderne Zeiten (Modern Times, USA 1936)
Der Zirkus (The Circus, USA 1028)
Für einen ganz kurzen Moment denkt Charlie in diesem legendären Moment in The Kid, das von seiner Mutter auf der Straße weggelegte Kind selbst wegzulegen. Er sitzt am Gehsteigrand, in den Armen das Baby, das er neben einer Mülltonne gefunden hat, da fällt sein Blick auf das Kanalgitter neben ihm. Er hebt das Gitter hoch und wägt seine Möglichkeiten ab, doch noch bevor der bitterböse Gedankenblitz Folgen zeitigt, hat ihn Charlie auch schon wieder von sich geschoben.
Charlie Chaplin weiß, wovon er in seinen Filmen spricht, wenn es um Armut geht. Die soziale Situation im Londoner East End gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die latente Gewalt der Umgebung, der Alkoholmissbrauch des Vaters und die psychischen Zusammenbrüche der Mutter, der tägliche Kampf ums Überleben und die Armenhäuser als Orte der letzten Zuflucht waren für Charlie und seinen älteren Halbbruder Sydney reale Bestandteile ihrer Kindheit. Der junge Charlie Chaplin als Protagonist eines Romans von Charles Dickens, den dieser nie geschrieben hat, so könnte man es sehen. Denn wie David Copperfield und Oliver Twist gelang es ihm, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, in den er hineingeboren wurde. Von ersten Gesangsdarbietungen in Music Halls und bei Engagements auf Tourneen als Neunjähriger schaffte er es in seiner Rolle als Tramp mit seinen Markenzeichen, der engen Jacke, den weiten Hosen und übergroßen Schuhen, der Melone, dem Bärtchen und dem Spazierstock und diesem seltsam watschelnden Gang schließlich an die Spitze der aufblühenden amerikanischen Filmindustrie und wurde zum schlichtweg berühmtesten Künstler seiner Zeit.
In The Kid bewahrheiten sich seine schlimmsten Befürchtungen, als Mitarbeiter des örtlichen Waisenhauses das Findelkind, das inzwischen zu einem fünfjährigen Buben heran- und Charlie ans Herz gewachsen ist, zu sich holen wollen. Charlie und das Kind, die beiden Schelme, haben sich in der Zwischenzeit nicht nur aneinander gewöhnt, sondern als echte Lebenskünstler auch Einnahmequellen wie jene ersonnen, bei der der Junge mit Steinen Fensterscheiben einschießt und Charlie flugs darauf als Glaser anrückt. Das kongeniale Zusammenspiel zwischen Charlie Chaplin und Jackie Coogan, der hier wie eine Miniaturausgabe des Tramps agiert, stellt denn auch den vielleicht größten Reiz dieses Films dar.
Nun aber rücken Aufseher aus dem Waisenhaus an. Sie stürmen Charlies armselige Behausung, sie versuchen, ihm das weinende Kind aus den Armen zu reißen. Die Gegenwehr von Vater und Ziehsohn ist heftig und kann in slapstickartiger Manier nur durch die Unterstützung eines herbeigerufenen Polizisten gebrochen werden. Weder Flehen noch Schläge mit einem Hammer helfen, das Kind wird auf einen Pritschenwagen verfrachtet. Doch Charlie entkommt der autoritären Gewalt und es entspinnt sich eine waghalsige Verfolgungsjagd über die Dächer. Schließlich springt Charlie auf den offenen Wagen und es gelingt ihm, den Buben noch vor der Ankunft in der Anstalt zu befreien. Und immer dann, wenn es in dieser herzzerreißenden Bilderfolge vielleicht doch eine Spur zu sentimental werden könnte, bricht Chaplin sie wie nebenbei mit einem dieser kleinen, unnachahmlichen Gags, die die Szenerie für einen Augenblick ins fast Surreale kippen lassen.
„Was wir Wirklichkeit heißen, ist ein Treppengeländer, an das jeder sich klammert, ohne zu wissen, wohin es führt“, schreibt der österreichische Literaturwissenschaftler und Autor Markus Gasser in Das Buch der Bücher für die Insel (2014) in einem Essay über den für seine makabren Geschichten bekannten britischen Schriftsteller Roald Dahl. „Geht es einmal hinab mit uns, dann wartet im Kellergewölbe eine Urwelt jenseits aller Barmherzigkeit.“ Gegen dieses Grauen, so führt Grasser seine Gedanken fort, habe die Menschheit nur ein Rezept gefunden, nämlich die Komik.
Charlie Chaplins filmisches Werk liest sich wie eine beinahe ununterbrochene Folge solcher Momente, in denen die Figur seines Tramps und die Menschen um ihn die größten Anstrengungen unternehmen, den Absturz von der Treppe, die von der Realität in den Untergang führt, zu vermeiden. In Goldrausch vollführt Charlie in der Rolle eines bitterarmen Goldgräbers einen „roll dance“, eine Art Tanz mit auf Gabeln gespießten Semmeln, mit unnachahmlicher Leichtigkeit und Eleganz und verspeist eine Schuhsohle und die Schnürsenkel wie die Delikatessen eines Gourmetrestaurants. In Der Zirkus, dessen widrige Produktionsbedingungen und die gleichzeitige schmutzige Scheidungsschlacht Chaplin an den Rande der Verzweiflung brachten, entwirft er den schlichtweg genialsten „banana peel joke“ der Filmgeschichte – Charlie vollführt ihn auf einem Hochseil und während ihm Affen in die Nase beißen und die Hose hinunterziehen. In Moderne Zeiten erliegt er in einer bitteren Kapitalismuskritik den Tücken einer „feeding machine“, die er, während sie ihm Suppe und Torte ins Gesicht kippt, im Versteckten selbst bediente, er kann in einer anderen Szene mit der Geschwindigkeit eines Förderbandes nicht mithalten und wird in die Eingeweide einer riesigen Maschine gezogen und in einer dritten durch das Schwenken einer roten Flagge, die von einem Lastwagen gefallen ist, zum unfreiwilligen Anführer einer Gewerkschaftsdemonstration. In Der große Diktator gibt er den streng choreografierten, mit unnachahmlicher Eleganz vorgetragenen Tanz mit dem Globus zur Darbietung, der dem Diktator Hynkel schließlich in den Händen zerplatzt, und ebenso die im Gegensatz dazu frei improvisierte Rede dieses Hitler-Verschnitts in einem grandios-unsinnigen pseudodeutschen Kauderwelsch, gespickt mit völlig unpassenden Wörtern wie Sauerkraut und Wiener Schnitzel.
Chaplins sozialpolitische Anliegen sind in allen diesen Szenen spürbar. Doch schon Jahre vor diesen Meisterwerken ging er mit The Kid ein Wagnis ein und erfand, wovor ihm von Seiten der Filmstudios heftigst abgeraten wurde: das Filmgenre der Tragikomödie. Diese Verschmelzung von herrlich subversivem Humor, dessen Gags auch heute noch zünden wie vor hundert Jahren, und hochdramatischer Tragödie, die deshalb unsere Seele berührt, weil wir hier nicht bloß Filmcharaktere vor Augen haben, sondern Menschen, die aus ihrem Fundus an Erlebtem schöpfen, war zum damaligen Zeitpunkt absolut unüblich und stellt wohl Chaplins eigenständigste Leistung dar. Dieses Hadern mit dem Grauen des Lebens und dabei das Ringen um Qualitäten wie Barmherzigkeit und Menschlichkeit nahmen ihren Anfang in Chaplins Reflexion der eigenen Kindheit. In der ihm so eigenen realistischen Sozialkritik verschmolz er bittere Momente mit sentimentaler Romantik, echtes Mitgefühl mit perfekt getimtem Slapstick zu dem, was die zeitgenössische Werbung von The Kid versprach: schlicht und einfach „Six reels of joy“, sechs Filmrollen (und in späteren Arbeiten auch mehr) reinsten Vergnügens.