Hugo Cabret (Hugo, USA 2011)
Es gibt diese wunderschöne Szene in Martin Scorseses bezauberndem Filmmärchen Hugo Cabret, in der der größte Wunsch des zwölfjährigen Titelhelden in Erfüllung geht. Asa Butterfield verkörpert Hugo mit großen Augen, die von tiefen Verletzungen und von Trauer erzählen, aber auch von geradezu trotziger Selbstbehauptung und dem unbeugsamen Willen, seiner Sehnsucht die Chance einer Erfüllung zu ermöglichen. Nach dem Tod seines geliebten Vaters lebt Hugo ganz allein in den Gängen und geheimen Kammern hinter der Fassade des Pariser Hauptbahnhofes. Die Adaption von Brian Selznicks Kinderbuch Die Entdeckung des Hugo Cabret ist zu Beginn der 1930er-Jahre angesiedelt, das grandiose Setdesign entführt uns in detailverliebt rekonstruierte Welten vor und hinter den Wänden, die dem Waisenbuben die Sicherheit eines abgeschiedenen Lebens bieten. Mit Ersatzteilen, Kurbeln und Ölkännchen hält Hugo die zahlreichen großen und kleinen Uhren des Gebäudes am Laufen und hat die ganze Zeit doch nur eines im Sinn: den kaputten Automaten, dessen Reparatur er zusammen mit seinem Vater bis zu dessen Tod in einem Museumsbrand betrieben hat, wieder in Stand zu setzen. Dieser mechanische Mensch ist ein feingliedriger silbernen Mann mit dunklen Augen und sanftem Lächeln, er sitzt über einem Blatt Papier an einem Tisch, eine Schreibfeder in einer Hand. Von ihm, sollte es Hugo denn gelingen, seine Mechanik wieder zum Schreiben zu bringen, erhofft er sich einen Hinweis, was seinen weiteren Lebensweg betrifft. „I know it’s silly“, mein Hugo. „But I think it’s going to be a message from my father.“
Der Blick auf das Innerste des Automatenmannes ist frei, die unzähligen Zahnräder schimmern fast golden. Was fehlt, ist ein Schlüssel mit einem Bart in Form eines Herzens. „There is always one moment in childhood when the door opens and lets the future in“, hat der englische Autor Graham Greene einmal geschrieben. Diese Art von Tür zu Hugos Zukunft öffnet sich bei einem seiner Abenteuer auf dem Bahnhof, die Scorsese in der Art der wilden Verfolgungsjagden der Stummfilmzeit inszeniert – inklusive einem Zitat auf die berühmte Szene aus Ausgerechnet Wolkenkratzer! (1923), in der sich Harold Lloyd in höchster Not zwischen Himmel und Erde an das Ziffernblatt einer Uhr klammert. Dabei trifft Hugo mit dem Mädchen Isabelle (Chloe Grace Mortez) zusammen, deren trauriger Großvater Georges (Ben Kingsley) einen kleinen Spielzeugladen betreibt. Sie trägt den gesuchten Schlüssel an einem Band um den Hals. Und als Hugo zu Isabelle Vertrauen fasst und sie zu der Kammer hinter den Uhren führt, die sein Zuhause ist, bringt dieser Schlüssel tatsächlich Leben in den mechanischen Mann. Die Zahnräder beginnen sich zu drehen, als fließe nun Blut durch die starren Glieder, sie greifen ineinander, das Werk der Maschine fängt an zu laufen, eine Hand führt die Feder zur Tinte und bringt die ersten Striche zu Papier.
Nach ein paar Momenten hält der Automat aber auch schon wieder inne und Hugos Wunschgebilde stürzt in sich zusammen; die Enttäuschung treibt ihm Tränen ins Gesicht. „I thought if I could fix it, I wouldn’t be so alone“, schluchzt er. Und dann der magische Moment, als abermals Bewegung in den silbernen Mann kommt und unter den Strichen der Feder ein erkennbares Bild entsteht: „It’s not writing. It’s drawing.“ Schließlich ist das Motiv erkennbar, es zeigt das Gesicht des Mondes und eine Rakete in seinem rechten Auge und weist durch den Namenszug darunter auf einen Film des Kinopioniers Georges Méliès. Hugo erinnert sich an eine Erzählung seines Vaters. Er habe zum ersten Mal in seinem Leben einen Kinosaal betreten „and saw a rocket fly right into the eye of the moon“. Deshalb ist sich Hugo gewiss: „It was a message from my father. And now we have to figure it out.“
Um dieses Vorgehen, nämlich die Entschlüsselung der Botschaft seines Vaters, wird sich der weitere Handlungsverlauf des Films drehen. Isabelles Großvater wird sich als der Filmpionier Georges Méliès entpuppen, wir werden die Dreharbeiten zu Die Reise zum Mond (1902) und anderen der frühen Gustostücke des Kinos beobachten dürfen, die zu einer Zeit entstanden, als die Bilder gerade erst laufen gelernt hatten. Das Waisenkind Hugo wird schließlich bei den Méliès sogar eine neue Familie finden – Scorseses liebevolle Hommage an die Geburtsstunde des Kinos als eines Ortes „where dreams are made“ ist eine romantische Weltverzauberung, in der zerbrochene Maschinen ebenso repariert werden können wie an ihrer Seele kranke Menschen geheilt.
In Lasse Hallströms Filmversion von John Irvings Roman Gottes Werk und Teufels Beitrag (1999) kümmert sich der von Michael Caine dargestellte Dr. Larch rührend um die Kinder seines Waisenhauses im Maine der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Als tägliches Ritual liest er ihnen vor dem Einschlafen aus Dickens‘ David Copperfield vor. „Whether I shall turn out to be the hero of my own life“, lautet der berühmte erste Satz dieses Romanklassikers, „or whether that station will be held by anybody else, these pages must show.“ David Copperfield als Vorbild für die Waisen – als einer, dem es gelingt, trotz widrigster Umstände etwas aus seinem Leben zu machen. Und jeden Abend verabschiedet sich Dr. Larch beim Lichtabdrehen von den Kindern mit den immer gleichen Worten: „Good night, you Princes of Maine, you Kings of New England.“ Dieses Ritual wird nach dem Tod des Doktors auch Homer Wells (Tobey Maguire) übernehmen, der selbst als Waisenknabe an diesem Ort aufwuchs und dann in die Welt zog, um dort sein Glück zu machen. „Thus I began my new life in a new name and with everything new about me“, liest er. „I felt like one in a dream.“ Dank seiner Beharrlichkeit ist auch Hugo Cabret der Held seines Lebens geworden; er ist seinen ganz eigenen Weg gegangen, der ihn zuerst zu seinem Vater und dann zu sich selbst und schließlich zu einer neuen Heimat geleitet hat.