Urvertrauen

Ich seh, ich seh (Österreich 2014)

Der Untergang (Deutschland/Italien/Russland/Österreich 2004)

 

Das Vertrauen in die Welt, in das Ganze in und um und zwischen uns, in die positive Einstellung zur Idee, dass es sich einfach lohne zu leben, findet sich in den Arbeiten des Kinderpsychologen Erik H. Erikson und des Soziologen Dieter Claessens, es wird darin als Resultat der erfolgreichen Entwicklung von Selbstwertgefühl und Liebesfähigkeit, zu emotionaler und psychosozialer Bindungsfähigkeit beschrieben. Eine Szene in Oliver Hirschbiegels kontroversiell rezipiertem historischen Drama Der Untergang zeigt die Pervertierung dieses Urvertrauen von Kindern ihrer Mutter gegenüber aufs Grausamste. Die Mutter, die sich dieses Missbrauchs schuldig macht, ist Magda Goebbels, der Schauplatz ihrer Tat ist der Führerbunker ganz kurze Zeit vor dem Fall von Berlin; die Tat, die den Untergang dessen darstellt, was Mensch-Sein bedeutet, ist die Ermordung ihrer eigenen Kinder. 

Die Älteste, Helga, liest ihren fünf Geschwistern gerade vor, als die Mutter in Begleitung des Arztes den Raum mit den Stockbetten betritt. Sie habe ihnen eine Medizin gebracht, „dass ihr nicht krank werdet hier in diesem feuchten Bunker“, heißt es. Und die Bekräftigung: „Die ist ein bisschen bitter, aber dafür hilft sie auch.“ Wie oft sagen Eltern diesen Satz, um ihre Kinder von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Hustensaft oder welche Medikamente auch immer zu schlucken. Und im Urvertrauen, dass ihre Eltern nur das Beste für sie wollen, tun die Kinder, was ihnen gesagt wird. „Du bist doch immer so tapfer“, wendet sich Frau Goebbels an die jüngste Tochter. „Einen schönen großen Schluck … Siehst du, war doch gar nicht so schlimm.“ Einem Kind nach dem anderen reicht sie das Glas mit dem Schlafmittel, nur der Ältesten ist das böse Spiel suspekt: „Bitte Mama, ich mag das nicht trinken.“ Was folgt, ist ein stummer Kampf, die Mutter hält ihrem Kind den Kopf und zuwingt sie, den Mund zu öffnen, der Arzt flößt ihr den Trank ein.

Später kehrt der Todesteufel im Schafspelz der Mutter zurück. Die Kinder schlafen tief, einem nach dem anderen legt sie die Giftkapsel zwischen die Lippen, einem nach dem anderen drückt sie die Zähne zusammen, eines nach dem anderen küsste sie nach dem kurzen Todeskampf auf die Stirn und zieht ihm die Decke über den Kopf, sodass die bloßen Füße nicht mehr bedeckt sind. Mir ist dabei durch den Sinn gegangen, dass die Kinder nun nicht mehr frieren müssen. Als sie kurze Zeit darauf beginnt, Spielkarten zu mischen und eine Patience zu legen, droht das eiskalte Maskengesicht der Frau Goebbels für Momente zu entgleisen, Corinna Harfouchs Verkörperung, die in ihrer Brillanz jener von Bruno Ganz in der Rolle Adolf Hitlers kaum nachsteht, reißt sie aber schon im nächsten Augenblick zurück in die Gewissheit, die sie vorher formuliert hat und die ihr Handeln bestimmt: dass nichts mehr von Bedeutung wäre, denn „unsere Idee geht zugrunde und mit ihr all das, was ich Schönes und Gutes in meinem Leben gekannt habe. Die Welt, die nach dem Nationalsozialismus kommt, ist nicht mehr Wert, darin zu leben.“

Auch eine Diskussion dessen, was das Vertraute und das Vertrauen zwischen einer Mutter und ihren Kindern ausmacht: In ihrem psychologischen Thriller Ich seh ich seh demontieren die österreichischen Filmemacher*innen Severin Fiala und Veronika Franz mit bewundernswerter Unaufgeregtheit und fast chirurgischer Präzision die Gefühle, die Kinder mit ihren Eltern doch eigentlich verbindet. Die innerfamilialen Abläufe, über die sich die Mitglieder üblicherweise keine Gedanken zu machen brauchen –hier werden sie in Frage gestellt. Die Vermutung, die noch keine Erkenntnis ist, kommt allmählich daher, stiehlt sich schleichend in die Wahnnehmung und dann auch in die Gefühlswelt der Zwillinge Elias und Lukas: Die Frau, die mit bandagiertem Kopf in ihr durchgestyltes Haus am Waldesrand zurückkehrt, ist vielleicht gar nicht ihre Mama.

Spielen die Kinder nur Familie, so wie sie zu Beginn des Films in den Wäldern und Feldern und im nahen Teich gespielt haben? Welche Ereignisse sind diesen auf den ersten Blick so sorglosen Tagen vorausgegangen?  Aus welchem Grund verhält sich die Mutter nach ihrer Rückkehr so seltsam, so „anders“ als sonst? Weshalb diese plötzliche Kälte den Kindern gegenüber? – Die Unbefangenheit zwischen den Buben (geradezu gespenstisch perfekt besetzt mit Elias und Lukas Schwarz) und ihrer Mama (Susanne Wuest) geht alsbald verloren; was als Rätsel beginnt und in der Folge Unverständnis über geänderte Regeln und veränderte Abläufe erzeugt, steigert sich gegen Ende des Films zum veritablen Horrortrip.

Das Sezieren der menschlichen Seele schien bislang unter den östereichischen Regisseuren Michael Haneke und Ulrich Seidl – letzterer fungierte bei Ich seh ich seh als Produzent – vorbehalten, jedem von ihnen auf seine unverwechselbare Weise. Nun ist es, als würden Fiala und Franz ihr Operationsbesteck übernehmen, um damit ihr ganz eigenes Ding innerhalb ihres bösen Spiels mit den Konventionen des Genrekinos zu machen. Ihre wesentlich weniger distanziert wirkende, weil ungleich empathischere und dann dennoch auch wieder eiskalte Deklination von pyhischer, aber auch psychischer Gewalt kulminiert in der entscheidenden Szene des Streifens. Die Buben haben ihre Mutter an Kopf und Körper ans Bett gefesselt und ihr die Lippen zugeklebt. Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit aufwacht, findet eine dieser stummen Debatten zwischen Elisas und Lukas statt, woraufhin Elias beginnt, den Klebstoff mit einer Nagelschere aufzuschneiden. Blut fließt, in Elias’ Gesicht spiegeln sich Mitgefühl und Unsicherheit ob des eigenen Verhaltens, Lukas’ Ausdruck ist wie immer sehr emotionslos, ja unbeteiligt. „Bitte beweis, dass du die Mama bist“, drängt Elias sie dann auch, fast ein Flehen ist das. Und nachdem ihm sein Bruder etwas ins Ohr geflüstert hat: „Was ist dem Lukas sein Lieblingslied?“ Für einen Augenblick scheint die Möglichkeit gegeben, dass sich alles noch zum Guten wenden könnte. Doch das Regie-Duo spielt mit den Regeln des Genrefilms wie mit unseren Gefühlen. Es hat den Anschein, als müsste die Mutter überlegen, dann schlägt sie „Guten Abend, gute Nacht“ vor; mit einem unüberhörbaren Fragezeichen am Schluss. Wieder die widersprüchlichen Gefühle auf den Gesichtern der Kinder, und dann der vielleicht gruseligste Moment, wenn sie anfangen, das wahre Lieblingslied zu singen: „Weißt du, wieviel Sternlein stehen …“ Wir sehen sie dabei schräg von unten, es ist der Blickwinkel der gefesselten Mutter, den wir einnehmen und der uns angesichts eines Kinderliedes das Füchten lehrt.

Das Gefühl, sich diesem Menschen gegenüber fallen lassen zu können, als Grundlage für die Herausbildung von emotionaler Sicherheit – hier kommt es mit schleichender Unausweichlichkeit abhanden. Dass in Ich seh ich seh das Fallen der Dominosteine nicht mehr aufgehalten werden kann, wird zur erschreckenden Gewissheit. Nach einem missglückten Fluchtversuch findet sich die Mutter mit – im wahrsten Sinne der Wörter – Haut und Haaren am Boden des Wohnzimmers festgeklebt. Rund um sie sind Kerzen aufgestellt, das Opfer ist angerichtet. Die Buben tragen grüne Masken wie Folterknechte. „Wo ist die Mama?“, ist auch diesmal die zentrale Frage, als Elias damit droht, das Haus in Brand zu setzen. Und endlich wird ausgesprochen, was uns ohnehin seit längerem schwante: „Ich spiel mit“, versucht die Mutter in Elias zu dringen. „Ich red mit Lukas. Der Lukas lebt wieder.“ Und sie verspricht, wieder Frühstück für beide zu richten und Ausflüge zu dritt zu machen.“ Wie früher. Wie vor „dem Unfall“. Für den, so versichert die Mutter ihrem Kind mit flehender Stimme, sich Elias nicht verantwortlich fühlen müsse: „Du bist nicht Schuld, dass der Lukas gestorben ist.“ Ein enervierend intensiver Moment, der Film gibt sich damit aber noch nicht zufrieden und treibt die Situation weiter. Das Aussprechen des Verdrängten, hier stellt es keine Möglichkeit zur Läuterung dar, vielleicht zu einem Neuanfang, sondern führt geradewegs in den Untergang. „Du glaubst ihr wirklich?“, fragt der imaginierte Lukas seinen Bruder und hält eine Kerze an den Vorhang. Und Elias insistiert der Mutter gegenüber: „Was macht der Lukas grad?“ Und setzt in seiner furchtbaren Logik nach: „Die Mama würde das wissen. Die Mama könnte ihn sehen.“

„A glooming peace this/Morning with it brings“, heißt es im finalen Akt von Shakespeares Liebestragödie Romeo und Julia. Dieser düstere, traurige, hoffnungslose Friede – das gestörte Gleichgewicht ist in der letzten Einstellung von Ich seh ich seh wieder im Lot. Das Haus ist niedergebrannt, von einer Rettung der Bewohner wüssten wir nichts; und jenseits der wogenden Maisfelder finden die Mutter und ihre beiden Söhne wieder zusammen. Vielleicht kann ein Film, der in seinem englischen Titel Goodnight Mommy heißt, auch nur so enden: mit der Erlösung im Tode.