In ihren Augen (El secreto de sus ojos, Argentinien 2009)
Es ist, als wäre das ganze Leben des Mannes auf diesen einen Moment hinausgelaufen: Benjamín Esposito (Ricardo Darín) tritt aus dem Schutz der Bäume, hinter denen er den Einbruch der Dunkelheit abgewartet hat. Langsam geht er auf das Nebengebäude des Hauses zu, das einsam in der argentinischen Steppe steht. Dorthin hat er den Mann namens Morales (Pablo Rago), mit dem er den Nachmittag über im Gespräch verbracht hat, mit einem Tablett verschwinden sehen. Benjamín nähert sich der Tür, die nur angelehnt ist, er drückt sie auf – und was er dahinter entdeckt, stellt die rastlose Suche nach einem Sinn in seinem Leben auf einen Schlag auf den Kopf.
Es war die Vergewaltigung und Ermordung von Morales’ Ehefrau Liliana, die Benjamíns Karriere als Gerichtsbeamter fünfundzwanzig Jahre zuvor aus den geregelten Bahnen geworfen hat. Benjamín gelingt es damals, den Täter, Isidoro Goméz (Javier Godino), aufzuspüren und ihn in einer aufsehenerregenden, minutenlangen ohne jeden Schnitt gedrehten Plansequenz in einem Fußballstadium zu stellen. Die anschließende Befragung führt er gemeinsam mit der Richterin Irene Hastings (Soledad Villamil) durch. Diese provoziert Goméz zu einem Geständnis, indem sie seine Männlichkeit anzuzweifeln vorgibt. Doch schon kurze Zeit nach der Verurteilung der Schock: Der eigentlich zu lebenslanger Haft Verurteilte kommt nach dem Beginn der Militärdiktatur wieder frei. Im Aufzug mit Benjamín und Irene, protzt er mit gezogener Pistole. Als dann auch ein Mitarbeiter Benjamíns in dessen Wohnung ermordet wird, flüchtet er in die Provinz. Und all die Zeit hat es den Anschein, als hätte das Unrecht gesiegt.
Schuld und Sühne – Ein anderer Film, John Maddens Politthriller Eine offene Rechnung (2010), diskutiert die Folgen eines Betrugs, bei dem die missglückte Gefangennahme eines Naziverbrechers von drei jungen Mossadagenten vertuscht wird: „For thirty years you’ve been taking the credit for it.“ Der Schmach und der Schande sind die drei damals entgangen, die Lüge hat jedoch die Freiheit ihres Gewissens ein Leben lang in Ketten gelegt. „Aren’t you tired of lying?“, fragt Chiarán Hinds Helen Mirren kurz bevor er sich vor einen Lastwagen wirft. In ähnlicher Manier reißt auch In ihren Augen dem Trug den Schleier vom Gesicht. Und am Ende des Films gönnt Regisseur Juan José Campanella seinen Protagonisten die Einsicht in den unabänderlichen Lauf der Dinge: und die Gewissheit, dass die Gerechtigkeit letztendlich obsiegen wird. Denn in dem Haus auf dem Land steht Benjamín auf einmal wieder dem Mörder Goméz gegenüber. Er geht gebückt und mit schlurfenden Schritten, die wenigen verbliebenen Haare stehen ihm wirr vom Kopf – ein Schatten seiner selbst. Ein Teil des Raumes ist abgeteilt, Goméz befindet sich in einer Art Käfig. Campanella gestaltet diese Szene so, dass die Männer immer wie hinter Gittern zu sehen sind – auf seine ganz persönliche Weise ist jeder von ihnen ein lebenslang Gefangener.
Morales offenbart sein Geheimnis. Er hat Goméz, nachdem dieser freigelassen wurde, aufgespürt, ihn jedoch nicht erschossen, wie er Benjamín vorhin noch erzählt hat. Dieser erinnert sich, dass sich Morales damals gegen die Todesstrafe ausgesprochen habe: Der Mörder müsse lebenslang eingesperrt werden – nur ein langes Leben mit der Schuld würde der Buße und Vergeltung genügen. So hat Morales Goméz entführt und im selbstgebauten Gefängnis festgehalten, er hat sein eigenes Leben der Bestrafung des Mörders seiner Frau gewidmet. Nicht die Freiheit ist Goméz’ Ansinnen, als er Benjamíns angesichtig wird. Vielmehr fleht er ihn an, doch mit ihm zu reden. Die Qualen seiner Seele spiegeln sich in seinem Krächzen, seinen Zügen, seinen Augen.
„Wie lebt man ein Leben voll der Leere?“, fragt sich der pensionierte Benjamín, der zu Beginn des Films beschlossen hat, über den Mordfall, der für ihn nie zufriedenstellend abgschlossen wurde, ein Buch zu schreiben: „Wie kann man ein Leben aushalten, angefüllt mich Nichts?“ Die schreckliche Vorstellung trifft auf alle Protagonisten des Films zu. El secreto de sus ojos – die Übersetzung des Originaltitels des Films „Das Geheimnis in ihren/seinen Augen“ ist vielschichtiger als die deutsche Verkürzung. Augen erzählen in diesem Film Geschichten; in den Blicken, die die Charaktere austauschen, spiegeln sich Freundschaft, Zuneigung, Begehren, aber auch Hinterhalt und Lüge wider. „Wissen Sie, wie das ist, wenn man plötzlich die Welt mit anderen Augen sieht?“, spielt Benjamín Irene gegenüber auf ihr Kennenlernen an: denn indem man andere Menschen betrachte, gewinne man auch einen neuen Blick auf sich selbst. Der langsame, umsichtige Erzählrhythmus des Films reflektiert den Prozess des allmählichen Schärfens der Wahrnehmungen und des Entstaubens der Wahrheit: „Die revidierte Perspektive, aber auch das Fortwirken des ersten Blicks offenbaren die wahren Zusammenhänge“, stellt der Filmpublizist Gerhard Midding fest. Und in seiner Recherche der damaligen Ereignisse sinniert Benjamín: „Habe ich noch die Erinnerung oder ist mir nur noch die Erinnerung an die Erinnerung geblieben?“
In ihren Augen wurde mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet – wohl auch aufgrund der überaus eleganten Weise, wie der Streifen zwei recht unterschiedliche Genres miteinander verknüpft: die erwähnten Motive einer Kriminalgeschichte mit jenen eines Melodrams unerfüllter Liebe, und dies vor dem Hintergrund der politischen Implikationen der heraufziehenden Militärdiktatur im Argentinien von 1976. Von Irene nach dem Grund gefragt, aus dem er zurückgekommen sei, antwortet Benjamín: „Weil ich mich seit zwanzig Jahren nur ablenke.“ Die Arbeit, die Prozesse, die Freunde, seine Ehe und die Affären: „Nur Ablenkung.“ Wobei er nicht verlange, dass sie verstehe, wovon er spreche, denn ihr Leben sei wohl anders verlaufen. Da senkt Irene still den Blick und spricht auch dadurch viele Worte.
In den Rückblenden ebenso wie in dem Handlungsstrang, der in der Jetztzeit spielt, sehen Benjamín und Irene gemeinsam so viel mehr als für sich allein. Die verschiedenen Erzählebenen werden auf kunstvolle Weise, mit fließenden Übergängen und dramatischen Wendungen miteinander verknüpft, sodass „die kriminalistische Ermittlung und die Ermittlung der eigenen Gefühle oft kaum auseinanderzuhalten sind“ (Martin Schwickert). Als Benjamín in die Provinz flüchtete, bedeutete dies auch den Abschied von Irene. Ihre Liebe war unausgesprochen, doch es hätte wohl nur eines Wortes bedurft, und das Leben der beiden wäre anders verlaufen. Die herzzerreißende Melancholie des Films, sein Schwelgen im Aufwallen der Gefühle gipfelt in der Szene ihres Abschieds am Bahnhof und der Hände, die sie, jeder auf seiner Seite, gegen die Fensterscheibe des Zugwaggons pressen. So viele verpasste Gelegenheiten – ein verhindertes Leben zu zweit. Nun, nachdem er all die Jahre später die Wahrheit über Goméz und Morales erfahren hat, betritt Benjamín am Ende des Films wieder das Gerichtsgebäude und dort Irenes Büro. Vielleicht besteht nun die Möglichkeit, die Wunden heilen zu lassen und Versäumtes nachzuholen, vielleicht ist Gelegenheit für einen neuen Anfang.