Jesus Christ Superstar (USA 1973)
Mamma Mia! (USA/GB/Deutschland 2008)
Les Misérables (GB 2012)
„Wenn Lieder gesungen werden, sollt passen Ton und Wort“, heißt es in Richard Wagners
Meistersinger von Nürnberg (uraufgeführt 1868). Dies vorausgesetzt, ist es mit Musicals wie mit Opern
so eine Sache, die einen mögen sie und wenn, dann meistens sehr, die anderen können nicht wirklich etwas damit anfangen. Beim Thema von Musicalverfilmungen divergieren die Meinungen meist noch
mehr, denn diese Gattung transponiert die Bühnenstoffe eben in ein anderes Medium mit seinen ganz eigenen Gesetzen. Drei Szenen aus Filmadaptionen haben uns ganz besonders zu berühren verstanden,
als Momente, in denen die Protagonist*innen ganz aus sich herausgehen, gleichzeitig genau in sich hineinhören und dabei ihre Seele finden.
Sie singen von der Liebe, wovon denn auch sonst, von unerfüllter, schicksalshadernder, tragischer Liebe, und niemand macht das herzzerreißender als Anne Hathaway in Les Misérables. In der Rolle der Fabriksarbeiterin Fantine, die ein kleines Kind zu versorgen hat und deshalb zuerst ihre Haare, dann ihre Zähne und schlussendlich ihren Körper verkauft, sitzt sie auf der Pritsche, auf der sie eben noch für einen Freier stillgehalten hat, und erinnert sich an bessere Zeiten. „He slept a summer by my side/he filled my days with endless wonders“ träumt sie ihren unmöglichen Traum eines Lebens, das auch tatsächlich lebenswert wäre, das sich unterscheiden würde von der Hölle, in der sie sich gefangen fühlt. Und muss doch resignierend feststellen: „Life has killed the dream I dreamed.”
Regisseur Tom Hooper ließ, so wird berichtet, seine Stars am Set live singen, ihm geht
es weniger um stimmliche Perfektion denn um die Authentizität der überbordenden Empfindungen. In diesem Sinne hält er während der großen Arien des Stücks ohne Schnitte auf die Gesichter seiner
Protagonisten und setzt die optischen Sensationen seiner Inszenierung primär in den Übergängen und Massenszenen ein. Russell Crowes Inspektor Javert fällt gesanglich dabei zu den anderen
Darsteller*innen ab, er gibt dem Adjektiv „hölzern“ eine neue Bedeutung im Konnex mit Fremdschämen. Hugh Jackman mutiert als Jean Valjean vom Sträfling zur Inkarnation von Edelmut, ohne dass uns
dies unglaubwürdig oder gar lächerlich erscheinen würde, und Eddie Redmayne überzeugt zutiefst als junger Revolutionär Marius, der den Tod seiner Kumpane an leeren Tischen und Stühlen betrauert.
Ihnen gelingt das Kunststück, die Emotionen der Charaktere aus der bewusst künstlichen Welt des Singspiels in die realistischer anmutende des Films zu übersetzen und sie uns darin als echte
Enttäuschungen und Sensüchte nachvollziehbar erscheinen zu lassen. Anne Hathaway schließlich ist eine Klasse für sich, sie schluchzt und stammelt und haucht sich schier die Seele aus dem Leib,
vergießt nicht nur selbst Tränen, sondern rührt auch uns dazu und liefert dabei eine geradezu überirdische Darstellung in Richtung des emotionalen Overkills.
Fast vierzig Jahre vor Les Misérables
kletterte ein Mann auf einen Berg und sprach dabei mit der Imagination seines Vaters, und schon damals ging es um enttäuschte Liebe, wenngleich unter anderen Parametern. Norman Jewison gestaltete
die Verfilmung von Andrew Lloyd Webbers Jesus Christ Superstar als poppiges Happening mit Hippie-Charakter, nahm sich aber bei „Gethsemane“, dieser
Zwiesprache von Jesus mit Gott, den er Vater nennt, ganz zurück und lässt Ted Neeleys Schreie der Verzweiflung ganz für sich wirken. „Then I was inspired/now I’m sad and tired“, bestimmt Jesus
seinen Standpunkt nach dem letzten Abendmahl und hat schon konkret sein Schicksal vor Augen: „Take this cup away from me“, bittet er, weil er den Sinn seines Sterbens nicht erkennen kann, und er
wundert sich, warum er Angst hat zu beenden, was er begonnen habe – „what you started/I didn’t start it“, relativiert er gleich. In dieser Geschichte,
und das war zur Entstehungszeit wild umstritten, ist Jesus ganz Mensch, doch dann steht er auf der Kuppe des Ölbergs, vor Augen die aufgehende Sonne, die durch die Wolken bricht. Er findet im
Gebet zu seinem vorherbestimmten Weg zurück und gibt sich hin im Vertrauen auf das, was größer ist als seine irdische Existenz: „I will drink this cup of poison/nail me to your cross and break
me/(…) take me now before I change my mind.“
„Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter“, rät Orsino, seines Zeichens Herzog von Illyrien, in Shakespeares Komödie Was ihr wollt (verfasst um das Jahr 1601) seiner unsterblich geliebten Gräfin Olivia. Doch selbst, wenn man sich, was die emotionale Befindlichkeit betrifft, zurückgestoßen fühlt, wird in den genannten Filmen munter musiziert und gesungen. Eine, die ebenfalls nicht eins ist mit ihrem Schicksal, ist Meryl Streep in Phyllida Lloyds Leinwandadaption des Jukebox-Musicals Mamma Mia!, in dem Hits der schwedischen Popgruppe ABBA zu einer flockig-leichten Feelgood-Griechenland-Hochzeitsszenerie mit viel fröhlichem Herumgehopse und selbstironischen Starauftritten (Colin Firth, Pierce Brosnan, Stellan Skarsgard, Julie Walters) verwoben sind – und wir sprechen hier dezitziert nicht von der peinlich misslungenen Fortsetzung.
Aber auch inmitten des fröhlichen Reigens gibt es einen Moment, in dem wir den Atem anhalten und uns die Gänsehaut hochkriecht. Meryl Streep steht auf einer Klippe hoch über dem glitzernden Meer, sie ist auf dem Weg zur Trauung ihrer Tochter in einer kleinen Kapelle und hält inne, um dem ehemaligen Liebhaber und Vielleicht-Vater ihres Kindes die Enttäuschung über die gemeinsame Vergangenheit ins verdutzte Gesicht zu singen. „I don’t wanna talk“, meint sie und tut es dann doch recht ausgiebig. Sie erinnert sich selbst und auch ihn daran, wie er sie in den Armen gehalten und sie im Glauben gelassen habe, sie würden sich Gemeinsames aufbauen. „The winner takes it all/the loser standing small“ – die Haare wehen im Wind, ebenso ein Schultertuch in passender Farbe, und die Gesten und die Mimik der großen Schauspielerin lassen uns in ihr Innerstes blicken, wo die vorgetäuschte Stärke nicht mehr ihre Unsicherheit und Verletzlichkeit verdeckt. Mit ihren Worten stößt sie den Mann, den sie insgeheim immer noch liebt, von sich, in Wahrheit möchte sie ihn umarmen und an sich ziehen – aus einem so banalen Text und fast kitschigen etwas wie eine großartige griechische Tragödie zu machen, das ist eben einer vom darstellerischen Kaliber einer Meryl Streep vorbehalten.