Bleiben und sterben, gehen und leben

Let Me In (USA/GB 2010)

So finster die Nacht (Låt den rätte komma in, Schweden 2008)

 

„I must be gone/or stay and die“, flüstert Romeo seiner Julia in Shakespeares klassischer Tragödie am Morgen nach ihrer ersten Liebesnacht zu, als sich die beiden im Erwachen unschlüssig sind, ob es die Nachtigall oder vielleicht doch die Lerche war, die sie geweckt hat. Der Junge Owen, der den Text gerade in der Schule durchnimmt, findet eben diese Worte auf einem Zettel, den ihm Abby hinterlassen hat, das seltsame, bleiche Mädchen, das von sich sagt, „mehr oder weniger zwölf Jahre“ alt zu sein. Mitten in der Nacht hat Abby an Owens Fenster geklopft und wollte die Einladung, ins Zimmer zu kommen, von ihm ausgesprochen hören. Dann ist sie nackt unter seine Decke geschlüpft. Im Halbschlaf hat Owen sie gefragt, ob sie mit ihm gehen wolle, worauf ihm Abby gestanden hat, gar kein Mädchen zu sein. Was sie denn sei, wollte Owen wissen, und Abbys Antwort: „Nichts.“ Als Abby Owens Hand nimmt und sie sanft zu ihrem Gesicht führt, ist dieser bereits wieder eingeschlafen, ohne dass ihm die blutigen Flecken auf ihrem Kinn aufgefallen wären. Am nächsten Morgen ist das Mädchen, das keines ist, wieder verschwunden, der Zettel mit Shakespeares Versen beweist Owen jedoch, dass er nicht geträumt hat.

Fast textident sind die beiden Adaptionen von John Ajvide Lindqvists Roman Låt den rätte komma in (2004) in dieser berührend-stillen Szene, in der die Unsicherheit und Verletzlichkeit von zwei Kindern an der Schwelle zum Erwachsenwerden und das Zutrauen zutage treten, das sie füreinander entwickeln. Thomas Alfredsons schwedisches Original So finster die Nacht (hier tragen die Kinder die Namen Eli und Oskar) und Matt Reeves’ US-Version Let Me In bleiben ganz nah an den beiden Hauptcharakteren und machen ihre ungewöhnliche Horrorgeschichte glaubhaft und nachvollziehbar, indem sie sie fest in ihrem realistisch gezeichneten Lebensumfeld verankern. Die Scheidung der Eltern, jugendliche Isolation und Außenseitertum machen Owen/Oskar letztlich mehr zu schaffen als die tragische Wahrheit über Abbys/Elis Identität eines Vampirs, der Blut zum Überleben braucht. Die Gefühle der Bewohner*innen der plattenbauartigen Wohnblocks in dieser trostlosen Stadt erscheinen uns fast so erfroren wie die Winterlandschaft, die sie umgibt, für den einsamen Jungen ist es allein das Mädchen mit den dunklen Geheimnissen, das seine Sehnsucht nach Wärme und Nähe erfüllt. So hält die Kamera die meiste Zeit auch auf die porzellanhaft-zerbrechlich wirkenden Gesichter der Kinder (Kare Hedebrant als Oskar und Lina Leandersson als Eli, noch intensiver Kodi Smit-McPhee als Owen und Chloe Moretz als Abby), in denen sich die ganze Bandbreite der Emotionen über all das verwirrende Neue und Unverständliche spiegelt, das über ihr Leben hereingebrochen ist. Die Filme nehmen ihre Hoffnungen und Ängste ernst; sie durchsetzen gewohnte Parameter des Vampirfilms mit der Zartheit einer Coming-of-Age-Geschichte und sind in ihrem spröden Realismus, der atmosphärischen Bildsprache und unsentimentalen Ruhe, die auch Szenen höchster Dramatik miteinander verwebt, visuell wie inhaltlich von betörender Schönheit.

Wobei das Remake sogar die präzisere der beiden Erzählungen ist. Die Tragik des Charakters von Abbys Begleiter, mit dem sie in Owens Nachbarwohnung zieht und der sie mit dem für sie so lebenswichtigen Blut versorgt, ist in dieser Version fassbarer. Er ist ein alter Mann, der sein eigenes Leben hinangestellt hat, um für Abby da zu sein, und dessen Beweggrund wohl kein anderer ist als die Angst vor dem Alleinsein, die auch Owens Handlungen bestimmt. Doch diesmal schlägt der Versuch, Blut zu beschaffen fehl, ein Fluchtversuch endet in einem in grandioser Weise von der Hutablage aus gefilmtem Autounfall, bei dem sich das Fahrzeug einen Abhang hinunter überschlägt. Um Abbys Geheimnis vor der Polizei zu bewahren, schüttet ihr Beschützer sich Säure ins Gesicht und opfert letztlich auch sein Leben.

In Jean-Jacques Rousseaus Erziehungsroman Emile (1762) wächst die Titelfigur in einer verdorbenen Gesellschaft auf und wird dennoch zu einem selbstbestimmten Wesen. Erwachsen werden, das heißt auch loslassen können vom bislang Gewohnten und aufzubrechen in eine Zukunft ohne Sicherheiten. Für Owen könnte dieser Prozess am Ende von Let Me In dramatischer nicht ausfallen. Wir befinden uns mit ihm in der Schwimmhalle der kleinen Stadt. Der Sportlehrer hat versprochen, ihn zu trainieren, doch einige Jungen, die es auf Owen abgesehen haben, locken ihn mit einem Feuer bei den Mülltonnen fort. Sie packen Owen an Händen und Füßen und schleifen ihn zum Pool, jede Gegenwehr ist sinnlos. Der Älteste der Jungen droht, Owen ein Auge auszustechen, sollte er es nicht schaffen, drei Minuten die Luft anzuhalten. Dann drückt er ihn unter Wasser, und nun sind wir ganz bei Owen. Wir fühlen seine Angst, wir spüren das Klopfen seines Herzens, wir hören wie er gedämpfte Laute in dieser zweiten Welt, die sich nur wenig abseits des Bekannten befindet und doch eigenen Gesetzen gehorcht. Und plötzlich sehen wir Blut, wir kriegen mit, dass Körper durchs Wasser gezogen werden, als hätte sie Spielbergs Hai gepackt, vernehmen das Knacken von Knochen und sehen wild um sich schlagende Beine und dann auch einen abgetrennten Kopf, der neben Owen zu Boden sinkt. (Im schwedischen Film treibt die Hand, die Oskar nach unten gedrückt hat, mit dem blutigen Armstumpf am Gesicht des Jungen vorüber.) Owen kommt hoch, er klammert sich an den Beckenrand und ringt nach Luft, und als er aufblickt, entspannen sich seine Züge, denn er erkennt, dass Abby gekommen ist, um ihn zu sich zu holen. Und still und sanft fällt hoch über ihnen Schnee durch die Öffnung eines zerbrochenen Fensters im Dach der Schwimmhalle und über dem Pool, der einem Schlachtfeld gleicht.  

Stay and die – die beiden Kinder bleiben nicht an dem Ort, an dem sie keine Freunde haben und keine Eltern, die sich um sie kümmern. Doch sie gehen auch nicht auseinander, sondern am Ende dieser grausam-zärtlichen Fabel zusammen fort. In der letzten Szene des Films sitzt Owen in einem Bahnabteil, der Schaffner wundert sich über die große Kiste zu seinen Füßen. Als er das Abteil wieder verlassen hat, ist ein leises Klopfen aus der Kiste zu hören, welches von Owen lächelnd erwidert wird. „Normale“ Mitglieder der Gesellschaft zu werden wie Rousseaus Emile wird Owen und Abby als ewigen Außenseitern verwehrt bleiben. Vielleicht wird Owen eines Tages wie der Mann sein, der für Abby gesorgt und sich für sie geopfert hat: jemand, der an der Seite der ewig Jungen alt und vom Freund zum Ersatzvater geworden ist. Doch bis dahin ist es noch lang, und für den Augenblick haben sie einander gefunden; sie brechen auf, um zu leben, und alles ist gut.