Des Menschen Wolf

The Killing Fields - Schreiendes Land (The Killing Fields, GB 1984)

1900 (Novecento, Italien/Frankreich/Deutschland 1976)

 

Ein Knabe, Patrizio, wird missbraucht. Er hockt da, mit tränenverschmiertem Gesicht, die schwarzen Handschuhe seines Peinigers, des Gutsverwalters Atiila, hat er übergezogen. In dessen Fratze ein irrer Blick, ein noch immer geifernder Mund. Langsam kommt das Kind auf die Beine und zieht sich die Hose hoch. Da packt ihn Attila und drückt ihn an sich; was für einen Moment einer perversen Art von Liebkosung ähnelt, gerät sogleich außer Kontrolle. Dass er über das Geschehene Stillschweigen bewahren müsse, schärft der Mann dem Jungen ein: „Über sowas wird nicht geredet!“ Dann beginnt er, Patrizio an den Beinen herumzuwirbeln, wie es ein Vater im Spiel mit seinem Sohn tun mag; doch die Vorzeichen sind ganz andere. Schneller und immer schneller dreht er sich im Kreis, doch was auf einem Karussell Jauchzen ist, verkommt hier zu Schreien aus Todesangst. Patrizios Kopf schlägt gegen die Wand, Blut spritzt auf, aber Attila hält nicht inne, stattdessen nochmals und nochmals das schreckliche Geräusch und die roten Schlieren auf der weißgetünchten Mauer.

„Homo homini lupus“ – das abgewandelte Zitat des römischen Komödiendichters Plautus, später durch den englischen Philiosophen und Staatstheoretiker Thomas Hobbes allenthalben bekannt gemacht. Des Menschen Wolf verkörpert Donald Sutherlands Attila in all seiner Grausamkeit. In Bernado Betroluccis Novecento, diesem über dreihundert Minuten langen maßlos-gradiosem Epos über die italienische Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts steht Attila für den aufkeimenden Faschismus. Bilder von geradezu lyrischer Schönheit, und dann diese Grausamkeit, die sich zwischen die beiden Protagonisten scheibt, den Gutsbesitzersohn Alfredo (Robert De Niro) und den Landarbeiter Olmo (Gérard Depardieu), beide am selben Tag geboren und als Kinder enge Freunde. Später lebt der eine als Bohemien, der andere wird zum glühenden Sozialisten. Das KZ-artige Regime, das Attila auf dem Hof errichtet, stellt, wie so vieles andere, auch diese Beziehung in Frage. Die Ermordung des Knaben Patrizio ist dazu der Anfangspunkt: der erste Riss in dem, was man als menschliche Moral bezeichnet, und jene Stelle, von der aus schließlich alle Dämme brechen werden.

Ein zweiter Film, eine Erzählung aus einem völlig anderen Kulturkreis, doch auch hier weiß man inzwischen, dass Kinder, um Patronen zu sparen, mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen und auf diese Weise zu Tode gebracht wurden. Wenn ich Roland Joffés Drama The Killing Fields als aufwühlend bezeichne, dann tue ich es nicht in Ermangelung anderer Worte – obwohl diese angesichts der Gräueltaten des Terrorregimes der Roten Khmer im Kambodscha der Jahre 1975 bis 1979 einem zuweilen fehlen. Eine wahre Geschichte: Inmitten des Chaos des Umsturzes in Phnom Penh werden die Journalistenfreunde Dith Pran (Haing S. Ngor) und Sydney Schanberg (Sam Waterston) getrennt. Eine Odyssee – Diths Inhaftierung, seine Arbeit auf den Reisfeldern, dann seine Flucht durch die kambodschanischen Bergwälder bis zu einem Lager des Roten Kreuzes an der thailändischen Grenze, und darin eine Szene des Grauens. Ein Flusslauf, Dämme, abgestorbenes Astwerk ragt aus dem Schlamm. Ein Steg, zerschunden, durchnässt, ausgemergelt, wie er ist, kommt Dith ins Straucheln. Er rutscht aus, fällt in ein Wasserloch, rund um ihn erkennen wir plötzlich Knochen, Skelette, Totenschädel. Dith gibt sich Mühe, wieder hochzukommen, die Kamera bleibt in Höhe seiner Beine, als er wieder auf dem Damm steht, und dann richtet sie sich auf und den Blick auf sein Gesicht. Das Grauen in Diths Augen verstehen wir, als die Kamera in die Totale geht: Ein See aus schwimmenden Leichen, Dämme aus Knochen, eine Szenerie aus hunderten, vielleicht tausenden Skeletten.

Haing S. Ngor wurde für seine Darstellung des Kambodschaners, dem die Flucht nach Thailand gelingt, mit einem Oscar ausgezeichnet. Im wahren Leben machte er Ähnliches durch. Er musste seine Qualifikation als Arzt verleugnen, um von den Roten Khmer im Rahmen ihrer so genannten „Säuberungsaktionen“, denen in erster Linie alle gebildeten Menschen zum Opfer fielen, nicht umgebracht zu werden. Aus diesem Grund konnte er im Lager seiner Frau bei der Geburt ihres Babys nicht beistehen. Die Frau starb damals, Ngor selbst wurde 1996 in Los Angeles von einer Straßenbande ermordet und trug dabei angeblich ein Amulett mit dem Bild seiner Frau bei sich. Wieder einmal hatte der Wolf zugebissen.