Der Marathon-Mann (Marathon Man, USA 1976)
Hitchcock hat uns das Duschen vergällt, Spielberg das Schwimmen im Meer, John Schlesingers Thriller Der Marathon-Mann muss sich wohl dafür verantworten, den Gedanken an einen entspannten Zahnarztbesuch, sollte ein solcher überhaupt möglich sein, im Keim zu ersticken. Die im wahrsten Sinne des Wortes bohrenden Fragen von Laurence Olivier in der Verkörperung des ehemaligen KZ-Arztes Szell und Dustin Hoffmans Schreie spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Es geht um den Schmuggel von Diamanten, die Szell, im Lager „der weiße Engel“ genannt, ein komfortables Leben im Exil ermöglichen. Hoffman spielt den New Yorker Studenten Babe Levy, Roy Scheider ist sein Bruder Doc und als ehemaliger Kurier Szells in Lebensgefahr. Von Szell mit einem Messer verwundet, kann sich Doc in die Wohnung seines Bruders schleppen. Dass er ihm vor seinem Tod Geheimnisse verraten hätte, vermuten Szell und seiner Handlanger. Diese Informationen aus ihm herauszupressen, ist Zweck der Zahnarztfolter, die in die Filmgeschichte eingegangen ist.
Die Kamera bewegt sich ohne viele Schnitte zwischen dem Arzt, der sich
die Hände wäscht und die Instrumente vorbereitet, und dem verzweifelten Babe, der auf einem Stuhl festgeschnallt ist. „Frankly, I’m disappointed in your silence“, meint Szell, und wie nebenbei
kommt eine Unterhaltung über seinen Akzent in Gang: „I’m a fanatic about spoken language.“ Keine falsche Einstellung für einen Experten in schmerzhaften Verhörmethoden. Er dreht eine Lampe so,
dass das Licht auf Babe fällt, er wischt ihm den Schweiß von der Stirn. „Please don’t worry“, bezieht sich Szell auf das erste Verhör, das zu keinen Resultaten geführt hat. Er würde nicht wieder
in das bereits vorhandene Loch bohren. „That nerve’s already dying. A live, freshly-cut nerve is infinitely more
sensitive, so I’lll just drill into a healthy tooth until I reach the pulp.“ Wie beunruhigend für Babe, dessen
angstverzerrtes Gesicht wir in Großaufnahme gezeigt bekommen. Das Geräusch des Bohrers, dessen Spitze sich Babes Mund, doch eigentlich dem Blick des Zuschauers nähert und dann verschwimmt, wird
schriller und lauter und beängstigender, dann sehen wir Szells fast teilnahmslosen Augen hinter den Brillen, kein Hauch von Mitgefühl ist darin auszumachen, was bleibt ist das grelle Licht der
Lampe und sind Babes Schreie. Mit heutigem Torture-Porn à la Hostel und Saw hat das nichts zu tun, die Gewalt wird nicht explizit gezeigt und spielt
sich, wie etwa auch in der Duschszene in Psycho, ausschließlich
im Kopf der Zuschauer ab. Und erweist sich vielleicht deshalb als ungleich intensiver und nachhaltiger.