Mr. Nobody (Frankreich/Belgien/Kanada/Deutschland 2009)
Es gibt da diese Debatte bezüglich der möglichen Intelligenz von Pflanzen, wie sie in ihrem Grundsatz schon von Charles Darwin und Alexander von Humboldt geführt wurde, im speziellen Fall in Bezug auf Berberitzen. Diese Dornensträucher würden sich gegen Parasiten wehren, die Larven von Fruchtfliegen, die sich über ihre Samenkapseln hermachen, indem sie den befallenen Samen abtreiben. Dies aber nur dann, wenn sich in der Frucht zwei Samenkapseln befinden, auf diese Weise opfern sie den befallenen und retten den gesunden. Befindet sich hingegen nur ein Same in der Frucht, gibt ihn die Pflanze verloren und spart so die Energie, die sie für die Abtreibung aufwenden müsste. Als „komplexe Entscheidung“ bezeichnet die Forscherin Katrin Meyer in der Zeitschrift „American Naturalist“ diesen Vorgang: Die Pflanze brauche „Erinnerung daran, wie viele Samen da sind, und wägt unter Vorwegnahme künftiger Risiken ab“, dem Verlust des zweiten Samens.
Darauf läuft es im Leben wohl hinaus, bei Menschen nicht anders als anscheinend bei manchen Pflanzen: auf Entscheidungen und ihre Auswirkungen. In Jaco Van Dormaels Film Mr. Nobody (die titelgebende Figur wird als Achtjähriger von Thomas Byrne, als Fünfzehnjähriger in jugendlicher Sensibilität von Toby Regbo und als Erwachsener überzeugend von Jared Leto verkörpert) fokussiert sich ein ganzes Leben auf den einen Moment, verdichtet sich in dem einen Augenblick, dessen Auswirkungen keiner vorhersagen kann und die sich doch als bestimmend erweisen werden für die Zukunft eines Menschen. Der Junge, der dem davonfahrenden Zug nachläuft, der Junge, der sich gleichzeitig am Bahnsteig zurück bei seinem Vater bleiben sieht, das Kind, dem der Butterfly-Effekt der aus seiner Entscheidung resultierenden Möglichkeiten im Bruchteil einer Sekunde vor seinem inneren Auge abläuft, dem sich die Filme seines Lebens in der Vielfalt all ihrer Variationen erschließen – den längsten Teil des Films glauben wir, eine Rückblende mitzuerleben. In einer futuristischen Zukunftswelt wird der 118-jährige Nemo Nobody als letzter Mensch, der eines natürlichen Todes sterben wird, interviewt. In seinen Überlegungen und Abwägungen, was wie hätte sein können, entwickelt Nemo Handlungsabläufe und Charaktere und verwirft sie auch gleich wieder, gibt sich mit anderen länger ab und stellt in seiner Unentschlossenheit alsbald selbst Verwechslungen an.
Was auf den ersten Blick wie die Verwirrtheit eines alten Mannes anmutet, wird zum Drehbuch des Kindes, der die Möglichkeiten seines Lebensweges durchspielt. „Two roads diverged in a yellow wood/And sorry I could not travel both/And be one traveler, long I stood/And looked down one as far as I could/To where it bent in the undergrowth.” – Robert Frosts berühmtes Gedicht „The Road Not Taken” kommt einem hier in den Sinn als Bild für die Entscheidungen, die das Leben für uns bereithält und die, ob wir denn wollen oder nicht, getroffen werden müssen. „There’s never any highway when you’re looking for the past“, singt Rosanne Cash, Johnnys älteste Tochter, in ihrem Song „A Feather’s Not a Bird“. Hier fallen keine Federn, hier fällt ein Blatt und dann ein Regentropfen, die Auswirkungen auf der Straße des Lebens sind dennoch jedes Mal immens. Und, wie bereits angedeutet, blickt nicht der erwachsene Nemo in die Vergangenheit, der junge spekuliert über seine Zukunft mit all ihren Illusionen und Eventualitäten; Nemo, das Kind, entpuppt sich als Architekt seines eigenen Lebens und erschafft dadurch auch jene Realität, in der die Manifestation seines uralten Alter Ego seine ganz persönliche Erinnerung an die verlorene Zeit erfindet.
„As long as you don’t choose, everything is possible“, heißt es an einer Stelle des Films. Der Vergleich mit Franz Kafkas „Türhüterparabel“ aus 1915 liegt nahe. Ein als solcher bezeichneter „Mann vom Lande“ begehrt darin, Einlass in das „Gesetz“ zu erlangen, bleibt sein Leben lang aber erfolglos. Er sieht sich von dem im Titel bezeichneten Wächter an der Durchsetzung seines Ansinnens gehindert und behindert sich in Wahrheit in seiner Mutlosigkeit und dem mangelnden Selbstvertrauen doch nur selbst. Von einer ähnlichen Art der Verweigerung der endgültigen Entscheidung ist auch Nemo im Narrativ von Mr. Nobody geleitet; sie verantwortet diverse Konfusionen im alles andere als linearen Handlungsverlauf. Dass diesem jedoch jederzeit problemlos zu folgen ist, liegt an der wunderbaren Inszenierung von Regisseur Dormael. Selbst die auf den ersten Blick verwirrenden Gedankenspiele der Verschachtelungen und all der (Un)Möglichkeiten des Lebens hält sie mittels eleganter Schnitte und Übergänge zwischen den unterschiedlichsten Erzählsträngen und Zeitebenen und all den faszinierenden visuellen Einfällen stets im Fluss der inneren Logik.
„I’m not afraid of dying”, widerspricht der alte Nemo einmal der Spekulation des Journalisten, der ihn interviewt. „I’m afraid of not having been alive enough.” Dieser Angst
– und hierbei handelt es sich um den essentiellen Unterschied zuzr oben zitierten Parabel – tritt das Kind Nemo schlussendlich entgegen. Der Vater am Bahnhof: „Bleib!“ und die Mutter im Zug: „Lauf!“, die „split second“ der verschiedenen Geleise, das Leben und den Tod und die Liebe und Verzweiflung vor Augen und die Erkenntnis: „the only move is not to move”. Deshalb der Schritt aus der Entscheidung und hin zu einer anderen, dritten, völlig neuen – eine Straße hinunter, wo der Herbstwind ein Blatt in die Luft bläst, zwei Liebende treffen sich, der alte Nemo stirbt: „This is the most beautiful day of my life“, ist sein letzter Satz.
Und das Räderwerk des Schicksals hält an, die Planeten stocken in ihren Bahnen und beginnen dann, sich rückwärts zu drehen, die Seiten im Manuskript des Lebens sind wieder weiß und der Alte steht von seinem Totenbett auf und beginnt zu lachen: „Mr. Sandman, bring me a dream“. Der Neubeginn eines Lebens hat seinen Anfang gefunden.