Panzerkreuzer Potemkin (Броненосец Потёмкин/Bronenossez Potjomkin, UdSSR 1925)
Marilyn mit wehendem Kleid über dem U-Bahn-Schacht, der Abschied auf dem Flughafen von Casablance, die Dusche, die mit Blut im Abfluss und weit aufgerissenen toten Augen endet: Wenn man, wie dies Forscher der Northwestern University gehandhabt haben, die Bedeutung von Filmen daran misst, wie oft sie in anderen Filmen zitiert werden, steht auch Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin und darin die Szene mit dem Kinderwagen auf der Hafentreppe von Odessa ganz hoch oben im Ranking.
Eisenstein bezeichnete seinen Stummfilm einmal als „tragische Komposition in ihrer kanonischsten Form – eine Tragödie in fünf Akten“, und einer davon ist auf der genannten Treppe verortet. Der Medienwissenschaftler Wolfgang Beilenhoff merkte an, dass der Film „im Kontext der sowjetischen Massenutopien“ entstanden sei; die „offene Empörung ausgebeuteter Massen“ stellt die revolutionäre Ausgangssituation in der Definition von Lenin dar, in der Treppenszene scheint sie sich Bahn zu brechen, wenn die Menschen wie ein Körper zu agieren scheinen; was folgt, ist ihre unerbittliche und äußerst gewaltsame Dekonstruktion. „Emotionally evoking madness“: Eisensteins Einsatz von Schnitt und Montage erreicht eine bis dahin ungeahnte Dynamik; der Rhythmus der Sequenz weiß auch heute noch zu fesseln, wenn die Soldaten der zaristischen Armee – angelehnt an tatsächliche Ereignisse aus 1905 – beginnen, gegen die Menschenmenge vorzugehen, die ihrerseits der Besatzung des titelgebenden Kriegsschiffes zujubelt. Schüsse fallen, es bricht Panik aus, und im Tumult richtet Eisenstein immer wieder sein Vergrößerungsglas auf die Schicksale Einzelner und packt uns dadurch am Herzen.
Zuerst sind es der Jubel, die Gelöstheit, die wehenden Flaggen, die weite Szenerie im Großen, Porträts der Winkenden im Kleinen, Erwachsene wie Kinder, darunter ein schwarzer Junge ohne Beine. Dann fallen die ersten Schüsse: Ungläubigkeit, Entsetzen, Angst – und das Einsetzen der schier endlosen Flucht die Treppe hinunter. Soldaten rücken in Reih und Glied nach, die Bajonette vorgestreckt, Menschen brechen getroffen zusammen, andere versuchen, sich hinter den Leichen oder einer Ballustrade zu verbergen. Großaufnahmen, Einzelschicksale: Ein Kind wird getroffen, seine Mutter nimmt es in die Arme, ihr Schmerz, ihre Verzweiflung, so steigt sie die Stufen wieder nach oben und stellt sich den Soldaten entgegen. Diese schreiten inzwischen bereits über Leichen hinweg, ihre Schatten strecken sich bedrohlich der Mutter entgegen. Für einen Moment hält die Reihe an und inne, ein kraftvolles Bild des Atemholens, ein Augenblick, in dem alles möglich scheint – und der gleich darauf in sich zusammenfällt, wenn das Schießen und das Wüten gegen das eigene Volk erneut beginnt.
Nun kommt der viel zitierte Kinderwagen mit dem Baby ins Bild. Eine junge Mutter stellt sich schützend davor. Auch sie wird von den Kugeln nicht verschont, sie sinkt zu Boden und stößt den Wagen dabei an. Dieser rollt über die Kante der ersten Stufe und dann immer weiter nach unten, zwischen Flüchtenden und Leichen und sterbenden Menschen und durch all das Chaos. Wieder schneidet Eisenstein weite Bilder der Szenerie gegen Nahaufnahmen des Wagens und des Kindes darin und schafft auf diese Weise eine allgemein und auch heute noch gültige Anklage gegen den Wahnsinn und die Unsinnigkeit des Mordens und des Krieges.
Ob als Hommage oder als Parodie: Von Hitchcock (Der Auslandskorrespondent, 1940) bis Woody Allen (Bananas, 1971, und Die letzte Nacht des Boris Gruschenko, 1975), von Francis Ford Coppola (Der Pate, 1972) bis Terry Gilliam (Brazil, 1985) hat sich eine Vielzahl von Regisseuren mit den Motiven der gewalttätgen Auseinandersetzung auf der Treppe und des abwärts ratternden Kinderwagens beschäftigt. Brian De Palma hat dabei in dem Shootout seines Mafiaepos The Untouchables – Die Unbestechlichen (1987) wie sonst keiner die Dramatik auf seine typisch manierierte Weise ausgekostent, und nie sonst war die Szene so aberwitzig wie in der Persiflage Die nackte Kanone 33 1/3 (1994) mit einem Rasenmäher unter einer Vielzahl von Kinderwägen, mit dem Papst und dem Präsidenten unter den Flüchtenden und in hohem Bogen durch die Gegend fliegenden Babies. Die eindringlichste Version jedoch ist die ursprüngliche, hundert Jahre alt und dennoch in ihrer filmischen Kraft und Wirkung ungebrochen.