Paradies Liebe (Östereich/Deutschland/Frankreich 2012)
„Grenzüberschreitende Literatur“, schrieb Jonathan Franzen anlässlich der Verleihung des „Center for Fiction’s Fadiman Award“ im Jahr 2005 an den US-amerikanischen Autor James Purgy, „richtet sich, sei es offen oder uneingestanden, immer an die bürgerliche Welt, von der sie abhängig ist.“ Und Franzen weiter: „Als Leser grenzüberschreitender Literatur hat man zwei Möglichkeiten: Man ist entweder schockiert, oder aber man schockiert andere mit seiner Weigerung, schockiert zu sein.“ Es genügt ein Schwenk von Purgys vielerorts beim Erscheinen als Skandal apostrophierter Literatur zum Film, und wir docken beim österreichischen Regisseur Ulrich Seidl an, der wie kein zweiter zu polarisieren scheint – und erkennen in der Rezeption von dessen Werk die Spiegelung jenes Dilemmas, das Franzen als für Purgys Werk gültig formulierte.
Zwei Damen, nicht mehr ganz jung, liegen am Strand. Sie halten die Gesichter in die Sonne, und es ist, als würden die vollschlanken Leiber in der Hitze zerrinnen. Die Security des Strandhotels patrouilliert entlang der Absperrung zwischen den Liegestühlen und den davor aufgereihten Beach Boys, als die erfahrenere der beiden Frauen damit beginnt, der unerfahrenen Verhaltenstipps für den Umgang mit diesen Burschen zu geben. Die Unterhaltung dreht sich um Schambehaarung beziehungsweise um deren Entfernung. Dass sie sich „unten“ nicht rasieren würde, meint die eine Dame, denn die Männer hier in Ostafrika würden auf ihren „Busch“ stehen, hätten sie selbst doch nur „kleine Wuckerln“ vorzuweisen. „Wild und ursprünglich“ würden die weißen Touristinnen den keniatischen Boys auf diese Weise erscheinen. Und für Männer, bekräftigt sie, wolle sie sich nicht mehr verbiegen: Sie habe gelernt, zu sich selbst zu stehen.
Vier Damen liegen am Strand, nur ein paar kurze Szenen später. Sie braten in der Sonne und unterhalten sich über Frustrationen im Eheleben und solche mit Männern im Allgemeinen, über den Verlust der Schönheit beim Älterwerden, Hängebrüste und damit in Zusammenhang stehende Operationen diverser Körperteile. Bei ihr wäre eine „Gesamtabsaugung“ notwendig, meint eine der Damen mit gewissem Zynismus, und dann die Sehnsucht: dass die „Neger“, wie die weißen Damen die Afrikaner nennen, sich nicht an ihrem Äußeren stoßen, sondern geradewegs die aus ihrer Sicht unzweifelhafte Schönheit ihrer Seelen erkennen würden.
Margarete Thiesel ist eine dieser vier Damen im vermeintlichen Urlaubsparadies in Kenia. Sie verkörpert die fünfzigjährige Teresa mit naiv-berührender Verletzlichkeit. Angst essen Seelen auf (1974) ist ein zentrales Werk von Rainer Werner Fassbinder betitelt, die Geschichte dreht sich um die Beziehung zwischen der sechzigjährigen Putzfrau Emmi und dem wesentlich jüngeren Marokkaner Ali, feindselige Stimmung im Lebensumkreis der beiden inklusive. Mit Seelenangst hat auch Teresa zu kämpfen, verhandelt Ulrich Seidl in seinem Film doch die (Un)Möglichkeit der Echtheit der Gefühle zwischen den Europäerinnen und den Beach Boys; die Missverständnisse und der Selbstbetrug, die die Sehnsüchte der Touristinnen mit sich bringen, sind vorprogrammiert. Teresa missinterpretiert die Dienste, die die Boys anbieten, als echte Zuneigung. Unsicherheiten, Selbstzweifel, die Furcht vor dem Verlassen-Sein und der Einsamkeit, dann auch immer wieder so etwas wie eine fast störrische Selbstbehauptung stecken die Schritte auf einem Weg ab, an dessen Ende Teresa enttäuscht und schluchzend zurückbleibt.
„Als sie im Bad den Schlafanzug auszog, sah ihr Körper in dem großen Spiegel läppisch aus. An manchen Stellen merkwürdig geschrumpft, an anderen aufgedunsen. Hüftlastig. Ein groteskes Paket.“ In der Beschreibung der Richterin Fiona Maye in seinem Roman Kindeswohl (The Children Act, 2014) vermittelt Ian McEwan vortrefflich, wie sich eine solche Frau fühlen mag: „Warum sollte jemand sie nicht verlassen?“ Ähnlich funktioniert Ulrich Seidls Film in einem für den Regisseur typischen Balanceakt zwischen bitterem Sarkasmus und tiefer Traurigkeit. Nicht nur in den Liegestuhlszenen am Strand blicken wir auf Stillleben des verzweifelten Festhaltens an der Idee, als Mensch nicht gescheitert und ohne Wert zu sein. In diesem Sinne sind Seidls streng durchkomponierte Aufnahmen Tableaux vivants, lebende Bilder, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. Hier werden keine Werke der Malerei oder Plastik durch Personen nachgestellt, eine Mode, die gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts aufkam, hier findet keine Belebung der sonst starren Kunst statt; hingegen entwirft Seidl in seinem peniblen Arrangement des Settings und der ebenso sorgsamen Auswahl des Kamerablicks Nachstellungen der Realität in gemäldegleichen Bildern, kontrollierte Bewegungsabläufe, in denen die Nachahmung der Wirklichkeit den Figuren zu Leibe rückt, und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Aus der Passivität, in denen Seidls Figuren lange Zeit inmitten ihrer Lebenswelten verharren, brechen dann unvermittelt ihre Affekte, brechen ihre allzu lang unterdrückte Wut und ihre Ängste mit zuweilen schockierender Brutalität.
Seidl setzt dieses Konzept der Vermessung und Bestückung seiner filmischen Räume in ganz unterschiedlichen Welten ein: in jene von Wiener Zeitungskolporteuren oder von Models mit aufgespritzten Lippen ebenso wie in jene von Sexarbeiterinnen und ihren Freiern oder Menschen mit mitunter extremer Tierliebe, und dies alles unter der Hitze von Hundstagen oder in kühlen Kellern. Im Fall von Paradies Liebe führt der Regisseur den nach eigener Definition „eingesperrten Menschen in seiner Melancholie“ eben unter dem freien Himmel Kenias und in den armseligen Zimmern der Beach Boys vor. Seidl siedelt seine Arbeit im Grenzbereich zwischen Dokumentar- und Spielfilm an und definiert sein Interesse am Dokumentarischen im Sinne des Cinéma Vérité, verleugnet dabei aber auch nicht seinen Hang zur Inszenierung der Szenerien: „Das Konzept, die Kamera zwischen verschiedenen Standpunkten zirkulieren zu lassen, sie aufzustellen, ein Bild einzurichten, einzuschalten – und was passiert, passiert.“
„Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut,“ hat Werner Herzog, der Seidl zu seinen zehn Lieblingsfilmemachern zählt, einmal geschrieben und weiter ausgeführt: Das Alltägliche, durch Gewohnheit unsichtbar, würde zu einem Abgrund, in den wir gebannt starren. Natürlich hat Herzog Recht, wenn er von „grässlicher Schönheit“ spricht; doch Ulrich Seidls Blicke sind nur vordergründig von Eiseskälte. Da ist noch mehr in diesen Szenerien der Traurigkeit, mehr als die Erbärmlichkeit der unerfüllten Sehnsüchte der Figuren. Denn genau in ihrem Scheitern liegt ihre größte, mitunter poetische Qualität: ihre Menschlichkeit. „There are truths outside the gates of Eden“, hat Bob Dylan vor einem halben Jahrhundert gesungen. Manchen von Seidls Charakteren und unter ihnen auch Teresa in ihrem Liegestuhl am Strand und später im Bett mit ihrem Beach Boy, von dem sie sich entgegen aller Vernunft so etwas wie Liebe erhofft, ist dieser Blick über die Absperrungen und Zäune ihres Lebens vergönnt, und wir sind dabei ganz nah bei ihnen.
Dennoch zwingt uns Seidls Blick dazu, eine konkrete Position zu dem einzunehmen, das sich auf der Leinwand abspielt; man könnte sie Mitleid nennen. Seidls Unnachgiebigkeit, sein Verharren auf den Abgründen der Empfindungen und Befindlichkeiten der kleinbürgerlichen Welt bezieht uns Zuschauer mit ein, die wir uns eigentlich außen vor und in Sicherheit wähnen. So anders sind wir nicht, ruft das Entsetzen darüber, was sich hier abspielt, auch in uns ein Erkennen von Wahrhaftigkeit hervor. „We are lonesome animals“, hat John Steinbeck geschrieben. „We spend all our life trying to be less lonesome.“ Ulrich Seidls Figuren sind Tiere dieser Art – und wir mit ihnen.