Zu ebener Erde und im ersten Stock

Parasite (기생충/Gisaengchung, Südkorea (2019)

 

Der Film beginnt mit einer Einstellung, die schon vieles sagt und vorwegnimmt: von einer Kellerwohnung aus blicken wir durch schmale Fenster auf das Straßenniveau am unteren Ende einer abfallenden Gasse. Dann schwenkt die Kamera auf einen jungen Mann, der mit seinem Handy beschäftigt ist. Er flucht, dass das WLAN der Frau aus der Wohnung darüber nun passwortgeschützt sei und er deshalb nicht mehr ins Internet komme. Und durch die Diskussion, die sich daraufhin entwickelt, lernen wir die anderen Mitglieder seiner Familie kennen, deren Schicksal und Bemühungen, dagegen aufzubegehren, uns durch diese filmische Erzählung begleiten wird. Später wird diese Wohnung im starken Regen fast völlig überflutet werden, wohingegen das luxuriöse Anwesen einer zweiten Familie, zu dem ein weiter Weg unzählige Treppen und steile Gassen und Straßen hinaufführt, unbeschadet bleiben wird. Zumindest von Wind und Wetter, jedoch nicht von den Auswirkungen der immensen Diskrepanzen und den daraus resultierenden sozialen Spannungen, die uns die Handlung vor Augen führen wird.

Zu ebener Erde und im ersten Stock lautet der Titel von Johann Nestroys Posse aus dem vorrevolutionären Österreich des Jahres 1835. Haben die Figuren auf der unteren Ebene dieser Lebenswelten alle Hände damit zu tun, sich Gläubiger vom Leibe zu halten, stehen eine Etage darüber die Vorbereitungen für einen Ball im Mittelpunkt. Kleidertausch, Heiratsanträge und Prügeleien feiern ihr turbulentes Treiben; die Frage, ob das alles denn ein glückliches oder schlimmes Ende nehmen werde, ist bei Nestroy vorhersagbarer als im südkoreanischen Kino, dessen erste Prämisse dennoch aus dem Munde des Meisters des Wiener Volkstheaters stammen könnte: „Mein Beispiel gebe warnend euch die Lehre: Fortunas Gunst ist wandelbar.“ Die Perspektive jener, die ganz unten sind, und die Demaskierung des Blendwerks, das nicht nur die koreanische Gesellschaft ausmacht, durch ihre Gewitztheit und ihren Überlebenswillen, ihr zuweilen schamloses Spiel mit sämtlichen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten – es ist die totale Schrankenlosigkeit der in Cannes und mit mehrfachen Oscars prämierten Arbeit von Regisseur Bong Joon-ho, die uns beim Betrachten unbändiges Vergnügen bereitet.

Es ist das, was man einen Ensemblefilm nennen könnte, treffen doch in der anfänglichen Interaktion und späteren Konfrontation der Lebenswelten insgesamt zehn wichtige Charaktere aufeinander. Da ist die arme Familie Kim auf der einen, die reiche Familie Park auf der anderen Seite, und zwischen diese beiden Fronten schieben sich noch die Haushälterin der Parks und ihr Mann, der sich in einem geheimen Bunker tief unter dem Anwesen vor Kredithaien versteckt hält. Die Handlung dreht sich um die gefinkelten Winkelzüge wie das Fälschen von Dokumenten, Schmeicheleien und Verleumdung, mit deren Hilfe sich die Kims bei den Parks einschleichen, dort nach und nach wichtige Stellen und dadurch immer mehr Freiräume besetzen: in der Person des Privatlehrers und dann auch Liebhabers der Tochter, der Kunstlehrerin des kleinen Sohnes, eines neuen Chauffeurs und der ebensolchen Haushälterin – wobei der Chauffeur und die Haushälterin, die diese Posten besetzen, erst einmal in Ungnade fallen müssen. Die Armen machen sich dabei die Überspanntheit und Neurosen der Oberschicht zunutze, die in ihrer Borniertheit die prekären Lebensumstände des Proletariats völlig zu verdrängen weiß. Dabei legen die Kims ein beträchtliches Ausmaß an Hemmungslosigkeit an den Tag, wenn es um die Eroberung und dann die Verteidigung mit allen Konsequenzen dessen geht, von dem sie glauben, dass es ihnen zustehen würde. Aus den rundum gelungenen Leistungen der Darsteller*innen könnte man Song Kang-ho und Choi Woo-shik als Vater und Sohn Kim sowie Lee Jung-eun als Haushälterin, die ein böses Schicksal erwartet, hervorheben.

Auch in den nachtschwarzen Kurzgeschichten aus der Sammlung Knockemstiff (2008) des US-amerikanischen Schriftstellers Donald Ray Pollock gehen die Figuren nicht zimperlich miteinander um; die freie Übersetzung „Schlag sie tot“ des real existierenden Ortes, der dem Buch seinen Titel gibt, lässt schon Rückschlüsse auf die Verhaltensweisen zu, mit denen diese Charaktere auf die Härte des Lebens reagieren, in das sie sich geworfen sehen. Von der „Boshaftigkeit der Armut, und wie sie dich direkt ansieht“ spricht in diesem Zusammenhang der Kriminalautor Daniel Woodrell, und die Mitglieder der Familie Kim scheinen in die gleiche Kerbe zu schlagen.

Was Parasite betrifft, fällt uns die eindeutige Zuordnung zu einem einzigen Genre schwer. Ein Drama, das zum wahren Thriller, eine Satire, die zur grotesken Farce geriert, das Mosaik grausamer Miniaturen einer rabenschwarzen Tragikomödie über soziale Ungleichheit, eine Parabel als Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus auf die Lebens- und Arbeitswelten der Menschen, die sich darin gefangen sehen – der Film ist alles in einem und vermittelt trotzdem in keinem Moment einen überladenen oder gar konstruierten Eindruck. Dazu macht es viel zu viel Spaß, der Handlung und ihren sich beständig steigernden Wirrungen und Verwirrungen zu folgen, die schließlich in der vielleicht denkwürdigsten Szene des Films, dem Crescendo eines absurden Blutbades mündet.

Es geht um die spontan einberufene Geburtstagsparty für den kleinen Sohn der reichen Familie und zuerst einmal um die Vorbereitungen dazu. Mit Frau Park betreten wir ihr riesiges Schrankzimmer, in dem die Auswahl angesichts der schieren Überfülle an Kleidungsstücken wahrlich schwerfällt – ein krasser Gegensatz zu dem Notquartier, in dem die Kims die Nacht wegen der Überflutungen verbringen mussten, und den gespendeten Kleidungsstücken, aus denen sie Brauchbares zu finden suchen. Sie solle die Tische im Garten in einem Halbkreis aufstellen, instruiert Frau Park ihre Haushälterin im Anschluss und entwirft dabei das Bild der Schwingen eines Kranichs in Bezug auf eine berühmte Seeschlacht, wobei das Indianerzelt ihres Sohnes ein japanisches Kriegsschiff symbolisiere – wie treffend ihr martialischer Vergleich ist, wird sich in den kommenden Ereignissen bewahrheiten.

„Alle sind so spontan gekommen und trotzdem sehen sie so entspannt aus“, stellt Sohn Kim nach dem Schmusen mit Tochter Park fest. Er beobachtet die ankommenden Gäste von einem Fenster des oberen Stocks aus, ihr betont ungezwungenes Auftreten in ihrem teuren Casual-Look. „Passe ich da rein?“, fragt er das Mädchen. „Gehöre ich dazu?“ Er erhält keine Antwort, Töchterchen Park schaut ihn nur unverständig an und weiß offensichtlich gar nicht, was er meint.

Die beiden Väter Kim und Park, mit buntem Federschmuck auf dem Kopf, setzten sich derweil mit der großen Überraschung im Ablauf der Party auseinander. Sie würden, so erklärt es Vater Park, einen Überfall auf die Geburtstagstorte fingieren, damit der kleine Sohn Park als Held dazwischen springen könne. Als „Traumaüberwindungstorte“ bezeichnet Frau Park, die Autorin dieses Szenarios, denn auch den Geburtstagskuchen in Anspielung auf die psychischen Probleme ihres Sohnes. Herrn Kims Bedenken kontert Herr Park mit dem Argument, das üblicherweise alle Widrigkeiten aus dem Weg räumt – er erhalte schließlich eine Wochenendzulage.

Sohn Kim schleicht sich indessen tief hinunter in den unterirdischen Bunker, wo, das haben wir miterlebt, seit einer heftigen Auseinandersetzung in der Nacht zuvor die Leiche der ehemaligen Haushälterin der Parks und ihr Mann eingeschlossen sind. Mit seinem sogenannten „Glücksstein“, so sein Plan, soll diese Angelegenheit gelöst werden, doch alles geht schief. Sohn Kim wird schon mit einer Schlinge erwartet, die sich aus dem Hinterhalt um seinen Hals legt, und nach einem wilden Gefecht, bei dem sich die beiden Kontrahenten wahrlich nichts schenken, liegt er blutüberströmt auf dem Boden der Küche. Der Mann der toten Haushälterin aber nimmt sich ein großes Messer und betritt, kurz von der grellen Sonne geblendet, den Garten, den Ort des dräuenden Massakers. Flugs stürzt er sich auf die Person, die die Geburtstagstorte trägt, es handelt sich um die Tochter Kim. Er sticht auf sie ein, der kleine Sohn Park fällt ihn Ohnmacht und die beiden Indianer denken, der Zeitpunkt für ihren fingierten Überfall wäre gekommen. Geschrei von allen Seiten steigert die Verwirrung, in der Mutter Kim zuerst mit einer Hacke und dann mit einem langen Spieß mit Würsten den Angreifer attackiert und auch gleich durchbohrt, der ihre Tochter zu Tode gebracht hat. Tochter Park hat den verwundeten Sohn Kim gefunden, ihn auf den Rücken geladen und trägt ihn in Sicherheit, indes immer mehr Blut spritzt und immer mehr teure Kleidungsstücke befleckt, wir sehen das teilweise in Zeitlupe. Als Vater Kim mitansieht, dass Vater Park angeekelt die Nase zuhält – der schlechte Geruch der Unterschichtler wird im Film von den Oberschichtlern wiederholt bekrittelt –, sieht er rot. Er stürzt sich auf ihn und ersticht ihn, dazu aufschwellende Musik und dann plötzlich Stille und nur noch das Rauschen des Bambus, als wir Vater Kim aus der Vogelperspektive bei seiner Flucht die Treppe hinunter beobachten. Später werden wir erfahren, dass er sich durch die Garage in die Katakomben des Kellers geflüchtet hat, der nun ihm Schutz vor Verfolgung und Verurteilung bieten wird.

Eine wahrliche denkwürdige Szene, ein Tohuwabohu, das uns beim Zuschauen fast die Sinne raubt, in allen Details, jeder Geste, jedem Blick perfekt getimt und entlarvend ohne Rücksicht auf Verluste, von denen es jede Menge gibt. In Berthold Brechts Die Dreigroschenoper (1928) heißt es: „Denn die einen sind im Dunkeln/Und die anderen sind im Licht./Und man sieht nur die im Lichte/Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Parasite hat einige von ihnen ans Licht geholt.