Der einsame Fänger im Roggen

Phenomena (Italien 1985)

 

In Dario Argentos Horrorthriller Phenomena spielt Donald Pleasence den Insektenforscher John McGregor: einen verschrobenen alten Mann, der seit einem Autounfall an den Rollstuhl gefesselt ist und gemeinsam mit einer Schimpansin in einem großen Haus in den Schweizer Bergen lebt. McGregor beschäftigt sich mit der Verwesung menschlicher Körper und der wesentlichen Rolle, die Insekten dabei spielen. Durch seine beinahe pathologische Beziehung zu Kadavern ist er zum Einzelgänger geworden. „Ich weiß, was es heißt, anders zu sein“, sagt er zu Jennifer, der von der erst fünfzehnjährigen Jennifer Connelly verkörperten Heldin der Geschichte. Er ist der Einzige, der dem Mädchen, das mit Insekten zu kommunizieren in der Lage ist und so eine grausige Mordserie aufzuklären vermag, Glauben schenkt.

Eine typische Rolle für den britischen Schauspieler Donald Pleasence (1919 – 1995), der in den letzten Jahren seines Lebens zum geheimen Star etlicher B-Pictures avancierte, zu einer Ikone der Nebenrollen in diesen herrlich schundigen Genreproduktionen, geradezu zu einer Institution. So war es auch nicht von ungefähr Pleasence, der mit seinen Markenzeichen, der Glatze, diesem hypnotischen Blick aus den weit aufgerissenen Augen, die schon so viel Schreckliches mitansehen mussten, und in raunendem Unterton die Doku-Collage aus den besten Horrorfilmen Terror im Parkett (1984) moderierte.

Auch in Argentos Phenomena agiert Pleasence mit der ihm so eigenen belustigten Dekadenz, er spielt seinen Hang zum hemmungslosen Manie­rismus aus, als wollte er sich sogar in den gefährlichsten Situationen über die immanente trivialästhetischen Figuren- und Handlungsmuster des Genres lustig machen. Weniger als filmischer Charakter, vielmehr wie ein orientalischer Geschichtenerzähler steht er inmitten dieses Crescendos aus Blut und Tränen und berichtet uns letztendlich doch immer von seiner Hoffnung auf die Macht des Guten: vom Sieg eines unschuldigen Mädchens über die Schrecken der Hölle. Wobei dem Insektenforscher das Überleben nicht vergönnt ist. Seine Schimpansin ist aus dem Haus aus­gesperrt, sie versucht ver­zweifelt, doch letztlich vergeblich, ihm zu Hilfe zu kommen, als er mit dem Treppenlift direkt in die Klinge des Mörders fährt – einer jener grell überzeichneten, den Klimax geradezu opernhaft zelebrierenden Momente des italienischen Giallo, für den Regisseur Argento letzlich in die Filmgeschichte eingegangen ist.

Mit diabolischem Gusto legte Donald Pleasence auch die Figur von Ernst Stavro Blofeld, immerhin James Bonds Nemesis, in Man lebt nur zweimal (1967) an – ein wahrhaft würdiger Eintrag in die Galerie der Bösewichter des Kinos. Am Nachhaltigsten jedoch bleibt er uns in Erinnerung, wenn er die Verschro­benheit seiner Figuren an der Grenze zum Fanatischen ansiedelte, zum Son­derling am Rande der Besessenheit, der als Spezialist in seinem Fach als einsam-ungehör­ter Warner in der Wüste menschlicher Ignoranz auf der Seite des Guten steht. Ein Umstand, der sie jedoch nicht davor bewahrt, sich durch die Abfolge der Ereignisse in Grenzsituationen völlig unberechenbarer Rekationen getrieben zu sehen.

In solchen Rollen wurde Donald Pleasence in den 1970er- und 1980er-Jahren immer häufiger in Horrorfilmen besetzt. Als Psychiater Dr. Loomis auf der Jagd nach dem Killer Michael Myers in John Car­pernters Hallo­ween-Reihe (ab 1978), als von der Wiederkehr des Satans überzeugter katholischer Priester in Die Fürsten der Dunkelheit (1987) des selben Regisseurs, als Insektenforscher in Phenomena: Er allein durchschaut die Lage und weiß die Anzeichen drohenden Unheils richtig zu deuten, über weite Strecken dieser Filme wird seinen Warnungen aber kein Glauben geschenkt – und wenn doch, ist es meistens schon zu spät. Er ist von der unbedingten Bösartigkeit der Mörder überzeugt, ist in jahre­lan­ger Kleinarbeit ihren Spuren des Verderbens gefolgt. Doch es fehlen ihm oft die eindeutigen Beweise. So sieht er sich bestenfalls als armer Spinner abgetan. „Er ist kein gewöhnlicher Verbrecher“, weiß Dr. Loomis über Michael Myers in Halloween 4 (1988) zu sagen, „er ist das personifizierte Böse auf zwei Beinen.“ Um den Mörder auszuschalten, hat er sich sogar mit ihm zusammen angezündet, eine schreckliche Narbe entstellt die Hälfte seines Gesichts, er humpelt auf einen Stock gestützt: ein alter Mann, der eigentlich nicht mehr kämpfen kann, der geschlagene Soldat seines ganz privaten Feldzuges, der aber dennoch nicht bereit ist aufzu­geben. „Sie reden von ihm wie von einem menschlichen Wesen“, warnt er vor Myers. „Dieser Teil von ihm ist schon lange gestorben.“ Aber keiner glaubt ihm. So ist für den alten Mann die lebenslange Jagd zur Obsession geworden und zum Weg in die Einsamkeit.

In solcher Weise isoliert, werden diese Charaktere zuweilen sogar selbst zu einer veritablen Gefahr: Die Verzweiflung lässt sie unberechenbar werden. So wie Pleasence als neurotischer Ehemann in Roman Polanskis Wenn Katelbach kommt (1966) auf seine Angst, die Demütigungen und die Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit, ganz allgemein auf Gewalt gewalttätig reagiert, ist auch in anderen Filmen bis zuletzt nicht klar: Ist Pleasence der wahre Fänger im Roggen, der Beschützer der potentiellen Opfer, als der er sich ausgibt? Oder greift er, weil er keinen anderen Rat mehr weiß, nicht doch zu verzweifelten Mitteln, die sich sogar gegen die Ahnungslosen richten können, sie die Klippen ins Verderben hinunter stürzen?

Donald Pleasence hat nie die strahlenden Helden gespielt, nie die Sieger. Er kann Michael Myers nicht wirklich unschädlich machen; am Ende von Wenn Katelbach kommt ist seine Figur ein völlig gebrochener Mensch; in Phenomena wird er, hilflos im Rollstuhl sitzend, von der Mordwaffe durchbohrt. Seine Charaktere sind auf sich allein gestellt, sie sind traurig-tragische Männer, die das Unverständnis der anderen zuweilen sogar mit allem bezahlen müssen, das ihnen geblieben ist: mit dem Leben. Seine Darstellung gibt so gerade vielen Genrefilmen eine Atmosphäre des surreal Unheimlichen, die weit über jene von reinen Schockeffekten hinausgeht. Denn er lässt uns für Momente in die Abgründe einer rastlosen Seele schauen.