Picco (Deutschland 2010)
In einer Reihe von Filmen von Michael Haneke gibt es Szenen, da möchte man als Zuschauer eigentlich gar nicht hinsehen und tut es trotzdem wie gebannt. Wenn in Bennys Video (1992) ein Junge emotionslos ein Mädchen mit einem Bolzenschussgerät tötet oder die zwei jugendlichen Mörder in Funny Games (1997) in quälend ausgedehnten Einstellungen von bis zu zehn Minuten Länge mit ihren kranken Spielchen eine Familie quälen, ist das beinahe unerträglich. Die Filme spielen mit der perversen Faszination, die die präzise komponierten Bilder auf die Betrachter ausüben und machen diese nachgerade zu voyeuristischen Komplizen der dargestellten Gewalt. In diese Richtung geht auch die Wirkung von Picco, dem brillanten Langfilmdebüt des deutschen Regisseurs Philip Koch.
Basierend auf wahren Begebenheiten in Jugendstrafanstalten wird die Geschichte von Kevin (Constantin von Jascheroff) erzählt, dem Neuen, der von den Mithäftlingen erst mal fertig gemacht wird. In einer Umgebung, in der nur das Recht des Stärkeren zählt, wird Kevin schließlich selbst zum Täter. Der Film nimmt sich Raum für die Beschreibung des Alltags im Gefängnis und der persönlichen Hintergründe der Häftlinge. Über den Zeitraum von hundert Tagen tastet sich der Film an die Nacht heran, in der Kevin seinen Zellengenossen Tommy zu Tode bringen wird. Anfangs sitzen sie noch beim Kartenspielen beisammen, Kevin, der sich Mühe gegeben hat, an das Gute zu glauben, und Tommy, der kleine Dealer mit den Depressionen, die ihn nächtens zum Weinen bringen, in unglaublicher Intensität von Joel Basman verkörpert; dazu Marc, der Schläger (Frederick Lau), und Andy, der Intrigant (Martin Kiefer). Einmal wollte Kevin bei einer Vergewaltigung dazwischen gehen, da hat ihn Tommy zurückgehalten, denn dann würde sich der Hass der anderen nur auf ihn richten. Nicht selbst zum Opfer zu werden, hat im Jugendgefängnis oberste Priorität. Über eine Filmstunde lang haben wir gelernt, die vier Charaktere nicht einfach als Kriminelle zu verurteilen, sondern sie als Menschen mit all ihren Ängsten und Träumen zu sehen. Jetzt hält uns der Film dieses Verständnis wie im Hohn als Zerrspiegel vors Gesicht, wenn im Laufe einer Nacht sämtliche Dämme der Zurückhaltung und der Menschlichkeit bersten.
Inzwischen hat sich Kevin „gut eingelebt“, wie es Tommy schluchzend bezeichnet, nachdem Kevin unter der Dusche seinen Frust an ihm ausgelassen und ihn zusammengeschlagen hat. Noch war Kevin darüber entsetzt, wozu er fähig ist. Jetzt, in der Nacht, die das letzte Viertel des Films ausmacht, provoziert Tommys offensichtliche Schwäche den aufgestauten Frust der anderen, der zur offenen Brutalität wird. Es beginnt relativ harmlos, als sie Tommys Spind durchstöbern und ein Foto zerreißen, das ihn als Kind mit seinen Eltern zeigt. Doch dann eskaliert die Situation in einer Vergewaltigung mit einer Klobürste. Hier zeigt uns die Kamera Tommys Gesicht, in dem sich die Schmerzen spiegeln, in Großaufnahme. Er kämpft gegen die Hand an, die ihm den Mund zuhält, dann wird die Bürste mit dem blutigen Stiel in eine Ecke geworfen. Diese Indizien genügen dem Film, er schlachtet die Brutalität der Szene nicht visuell aus, im Kopfkino des Zuschauers arbeitet sie dennoch nicht weniger verstörend. „Schon mal gesehen, wie sich jemand weghängt?“, wird Kevin gefragt, der die ganze Zeit selbst in Gefahr ist, die Aggressionen der anderen wieder auf sich zu ziehen. Gefesselt und mit einem Tennisball im Mund muss Tommy mitanhören, wie Argumente für oder gegen das Erhängen ausgetauscht werden: „Pro, ein Mensch stirbt.“ – „Ist das nicht eher Kontra?“ Und wieder hält die Kamera brutal auf Tommys geknebelten Mund, auf sein schwitzendes Gesicht, auf seine Augen, in denen sich die Qualen der Todesangst spiegeln, die dem Zuschauer in Mark und Bein gehen.
Aus Bettlaken fertigen die Zellengenossen einen Strick an und befestigen ihn über der Toilette. Dann versuchen sie, Tommy unter Androhung von neuerlicher Folter und mit perfidem Sarkasmus zum Selbstmord zu treiben: „Es ist das Beste für dich.“ Kevin hält Tommy fest, als sie ihm, einen Plastiksack über dem Kopf, mit einer Rasierklinge die Unterarme zerschneiden. „Hör endlich auf, an die Welt da draußen zu denken!“, wird Kevin angefahren, als er die anderen doch noch stoppen will, „es gibt kein Draußen mehr.“ Die Kälte, mit der die anderen Tommy begegnen, ist erschreckend. „Junge, bring’s bitte hinter dich. Es ist ja wirklich nicht mehr mit anzusehen“, beschwert sich Marc, als Tommy, die Schlinge um den Hals, auf dem Klo steht. Und dann treiben Andy und er Kevin zur Tat: „Langsam glaube ich wirklich, wir haben uns den Falschen ausgesucht“, drohen sie ihm und setzen nach: „Es führt kein Weg dran vorbei, Kevin.“
Tatsächlich ist es schließlich Kevin, der Tommy die Füße wegzieht. „Schau mir in die Augen!“, fleht Tommy. „Er oder du!“, drohen Andy und Marc. „Tut mir Leid. Du hättest dasselbe gemacht“, bittet Kevin um Vergebung, bevor er Tommy in den Tod stößt. Abermals bleibt die Kamera auf dem Bild des zuckenden, röchelnden, sterbenden Tommy – so lang und unerbittlich, dass es kaum auszuhalten ist. Diese Absolutheit, diese Direktheit, diese Unmittelbarkeit und Unbarmherzigkeit – was wir hier zu sehen bekommen, trifft uns mit großer Wucht, es erscheint uns absolut echt, nicht inszeniert. Damit haben Regisseur Philip Koch und sein herausragender Darsteller Joel Basman Momente von immenser Eindringlichkeit geschaffen, die nicht nur die Filmcharaktere, sondern auch uns Zuschauer in einen Abgrund des Unvorstellbaren reißen und dort ohne Mitgefühl und die Hoffnung auf ein Entkommen liegen lassen. Das Unaussprechliche bleibt unkommentiert und lässt uns wie betäubt zurück.