Roma (Mexiko/USA 2018)
Im Mexico City zu Beginn der 1970er-Jahre ist das Leben für die junge Mixtekin Cleoein langer, ruhiger Fluss , unterbrochen von kleinen Freuden und großen Kränkungen. Cleo arbeitet als Haushälterin für eine siebenköpfige Familie, die im Stadtteil Roma ein großes Haus mit Innenhof und eine für den breiten Ford Galaxie fast zu enge Einfahrt bewohnt. Vater, Mutter, Großmutter und vier Kinder – Cleo ist Mädchen für alles und kümmert sich rührend um die ihr Anvertrauten, die Söhne Toño, Paco und Pepe und die Tochter Sofi. Es gibt kein Murren, auch wenn sich Arbeiten wie die Entfernung des Hundekots in der Einfahrt, das Aufräumen der Zimmer und das Wäschewaschen in einem tagtäglichen Einerlei wieder und immer wieder zu wiederholen scheinen.
Cleo betrachtet die Welt um sich herum und jene, die darin agieren, mit großen sanftmütigen Augen und einem leisen Lächeln – etwa, wenn ihr Liebhaber Fermín (Jorge Antonio Guerrero) nackt und mit einer Vorhangstange im Hotelzimmer den harten Samurai mimt. Alfonso Cuaróns weltweit mit Preisen geradezu überhäuftes Wunderwerk von einem Film ist – obwohl von Netflix produziert – Kino pur, ist reinste filmische Magie, ist ein humanistisches Liebesgedicht in herrlichen monochromen Bildern, gleichzeitig eine von Melancholie und liebevoller Ironie getragene, in impressionistischer Detailverliebtheit rekonstruierte Reminiszenz des Regisseurs an seine eigene Kindheit und zudem auch eine bittere Anklage gegen die Diskriminierung von Teilen der Gesellschaft, gegen Klassenunterschiede und die gewaltvolle, bis heute nicht aufgearbeitete Niederschlagung von demokratischen Bewegungen.
Dabei spielt der bereits erwähnte Fermín in zwei weiteren Szenen eine Rolle. Cleo fährt ihm bis zu einem vorgeblich sportlichen Trainingslager auf dem Land nach, um ihm zu sagen, dass sie schwanger sei, sieht sich von ihm aber brüsk mit der Drohung von Gewalt gegen sie und das Baby zurückgewiesen. Es ist auch Fermín, der ihr einige Zeit darauf eine Pistole vors Gesicht halten wird. Zusammen mit der Großmutter befindet sich Cleo in einem großen Kaufhaus in der Innenstadt, um ein Kinderbett für das Baby zu kaufen, als unter ihnen auf der Straße auf einmal Schüsse fallen. Wie so oft in diesem Film gelingt es Regisseur Cuarón, der selbst die Kamera führt, mit einem langen langsamen Schwenk, verschiedene Handlungsstränge unterschiedlicher Erzählebenen in ein in sich logisches Gesamtbild zusammenzuführen. Zuweilen entwirft er Kamerawendungen von 360 Grad, die etwa Cleo beim Zusammenräumen oder das Familienleben in streng choreografierten Abläufen zeigen. In einer Rekonstruktion dessen, was in die Geschichtsbücher als Fronleichnam-Massakers von 1971 eingegangen ist, eskaliert vor dem Kaufhaus eine Demonstration, wir blicken durch die Fenster des ersten Stocks nach unten, dort werden Studierende von einer paramilitärischen Gruppe namens „Los Halcones“, die Falken, angegriffen und gejagt. Einige flüchten sich in die Möbelabteilung und suchen dort verzweifelt Schutz, die Verfolger spüren sie jedoch auf, ein junger Mann wird aus einem Schrank gezerrt und an Ort und Stelle erschossen. Plötzlich steht Fermín mit gezogener Waffe vor Cleo und der Großmutter, Blicke des Erkennens, ein Moment, in dem alles möglich scheint, dann wendet er sich ab und läuft davon.
In dem ganzen Schreck hat Cleo unvermutet ihren Blasensprung. Aufgrund des Chaos auf den Straßen gelangt sie zu spät ins Krankenhaus, das Kind wird tot geboren. Die Kamera befindet sich im Operationssaal ganz dicht neben Cleo, wir sind bei der Geburt deshalb direkt neben ihr; es ist, als würden wir einerseits sie und die Menschen, die ihr zu helfen versuchen, beobachten, andererseits nehmen wir das Geschehen fast durch Cleos Augen wahr: ein genialer Kunstgriff. Die Wiederbelebungsversuche zeigen keinen Erfolg, schluchzend hält Cleo ihr totes Kind in den Armen – ein herzzerreißender Moment, der geradewegs zu jener Szene führ, in der all die erzählerischen Stränge des Films zusammenlaufen und in der Cleo offenbart, dass die Bedingungslosigkeit ihrer Liebe zu den Kindern, deren Wohl ihr anvertraut wurde, bis zur Selbstverleugnung geht.
Ein Familienausflug ans Meer, am Morgen des Tages der Rückfahrt in die Stadt macht sich die Mutter mit ihrem ältesten Sohn auf, die Reifen für die Heimfahrt zu überprüfen, Sofi und Paco aber wollen nochmals ins Meer. Cleo trägt nur ihr Unterkleid und spielt mit dem Jüngsten im Sand, den beiden anderen wird aufgetragen, nicht zu weit ins Wasser zu gehen. Dass Cleo nicht schwimmen kann, wird mehrmals betont und ist allen bewusst. Die Aktionen der Szene durchmessen einen breiten Abschnitt von einem strohgedeckten Platz über den Strand bis ins offene Meer, die Kamera bewegt sich parallel zu dem Geschehen, das von Moment zu Moment an Dramatik gewinnt. Cleo trocknet den Jüngsten unter dem Strohdach ab, ihre Augen sind dabei immer bei den beiden anderen. „Als ich groß war, war ich ein Seemann“, erzählt das Kind in der ihm eigenen seltsamen Weise. „Aber ich bin in einem Sturm ertrunken.“ Da kann Cleo Sofi und Paco offenbar nicht mehr ausmachen. Sie überlegt nicht, sie handelt fast reflexartig und ohne Gedanken an die eigene Sicherheit. Sie läuft über den Strand dem Ufer zu und direkt ins Wasser, ruft dabei verzweifelt nach Sofi und Paco. Gischt spritzt hoch, Wellen schlagen ihr ins Gesicht, es hat den Anschein, als hätte die Kamera, als hätten auch wir mit ihnen zu kämpfen. Immer tiefer geht Cleo ins Wasser, auf einmal tauchen zuerst Pacos Kopf und gleich darauf auch der von Sofi aus dem Wasser auf, mit viel Mühe kriegen Cleo und die Kinder einander zu fassen. Gemeinsam schaffen sie den Weg zurück an Land, wo sie keuchend in den Sand fallen. Die Mutter und der Älteste, auch der Jüngste laufen herbei und im Gegenlicht einer sternförmigen Sonne kauern sie schluchzend und zitternd beisammen – eine Umarmung wie der Augenblick einer Offenbarung, die Heilung oder Schöpfung bedeutet. „Ich wollte nicht, dass sie geboren wird“, stammelt Cleo wiederholt und meint ihr totgeborenes Kind. „Wir lieben dich so sehr“, gehen auch mit der Mutter die Gefühle los.
Alfonso Cuarón war bei diesem seinem Herzensprojekt nicht nur für die Regie und die Kameraführung, sondern zudem für die Produktion, das Drehbuch und den Schnitt verantwortlich. In einem Interview erklärte er, neunzig Prozent der Szenen in Roma entstammten seinen eigenen Erinnerungen: „Ich reproduzierte das Zuhause meiner Kindheit, ich trug sogar einen Großteil der originalen Möbel zusammen, ich castete die Schauspieler so, dass sie so gut wie identisch mit meiner Familie zu Beginn der Siebzigerjahre wirken – bis hin zur Hauptfigur des Films, dem Kindermädchen Cleo.“ Wobei er für diese Rolle in der bis dahin unbekannten mexikanischen Schauspielerin Yalitza Aparicio eine Idealbesetzung fand. Die große Authentizität ihrer Darstellung, die Wärme ihrer Ausstrahlung und fast stoische Standhaftigkeit, mit der sie selbst traumatischen Ereignissen begegnet, macht sie zum stillen Zentrum in all dem kleinen und großen Chaos, das wie ein Sturm um sie tobt. Wie wir in den langen Einstellungen Menschen entlang ganzer Straßenzüge begleiten, so begleiten wir Cleo durch Szenen ihres Lebens, die sich ganz einfach echt anfühlen. Am Schluss des Films trägt Cleo wieder einmal einen Korb Wäsche zum Aufhängen auf das Dach und über ihr ist in dem Ausschnitt des Himmels, der uns der Blick aus dem Innenhof nach oben bietet, ein Flugzeug zu sehen. Die Dinge des privaten Lebens und jener draußen in der Welt verlaufen in dieser poetischen Chronik gleichzeitig und zuweilen überschneiden sie sich für kurze Zeit.