Stand By Me - Das Geheimnis eines Sommers (Stand By Me, USA 1986)
Von James M. Barrie, dem viktorianischen Autor und Schöpfer der Figur des Peter Pan, wird eine Geschichte vom Begräbnis seines älteren Bruders David erzählt, der beim Schlittschuhlaufen im Eis einbrach. James glaubte, seine Eltern sagen gehört zu haben, dass besser er an Stelle des Bruders gestorben wäre. Er zog sich sogar Davids Kleider an, um auf diese Weise die Liebe seiner Mutter zu erobern. Und der Schock über das unerbittliche Ticken der Zeit, das für jeden von uns unweigerlich zum Tod führt, inspirierte ihn Jahre später zu seinem Theaterstück und in der Folge dem Roman über den Jungen, der nicht erwachsen werden will.
Eine ähnliche Szene spielt sich auch in Stand By Me ab, Rob Reiners atmosphärisch dichter, wunderbar sensibler sommerlicher Freundschaftsidylle nach der Novelle Die Leiche (1982) von Stephen King. Am Grab seines Bruders bildet sich der zwölfjährige Gordie (Will Wheaton mit großen weidwunden Augen) ein, sein Vater würde seinen Tod dem des Bruders Vorzug geben. Zwei Tage und eine Nacht lang sind Gordie und seine drei besten Freunde daraufhin in den Wäldern rund um ihre Heimatstadt Castle Rock unterwegs: Chris (River Phoenix mit gewohnter Präsenz), der beschuldigt wird, in der Schule das Milchgeld gestohlen zu haben, Teddy (Corey Feldman), der von den Heldentaten seines Vaters in der Normandie prahlt, und der dicke Vern (Jerry O’Connell), dem das Gerücht von einem vermissten Jungen untergekommen ist, der angeblich unter einen Zug geraten sein soll. Die Freunde machen sich auf die Suche nach dem Leichnam und durchleben dabei eine Zeitspanne, in denen ihnen das Kindsein entgleitet und sie die ersten Schritte zum Erwachsenwerden tun.
Als sie die Leiche endlich im Gebüsch abseits der Bahngeleise gefunden haben, bricht Gordie zusammen. „Why did he have to die?“, stößt er hervor und meint nicht den Jungen, den sie gar nicht kannten, sondern den kürzlich verstorbenen Bruder. Was ihn so quält, ist der Gedanke, für seine Eltern nicht gut genug zu sein: „My dad hates me!“ – „He just doesn’t know you“, widerspricht ihm sein bester Freund Chris und nimmt den Schluchzenden in die Arme – eine Spiegelung jener Szene, in der Gordie Chris in dessen Furcht, sich vielleicht niemals aus dem sozialen Sumpf seiner Familie befreien zu können, zuvor in liebevoller Weise getröstet und ihm Mut zugesprochen hat.
Noch bevor sich Gordie so richtig fangen kann, platzen ältere Jugendliche dazwischen. Sie wollen den Jüngeren den Ruhm, der in ihrer Vorstellung mit der Entdeckung der Leiche einhergehen müsste, abspenstig machen. Es entspinnt sich zuerst eine Rangelei mit Worten, die Situation spitzt sich dann aber dramatisch zu, als der Anführer der Halbstarken sein Messer zückt. Da fällt ein Schuss, und Gordie hält den verdutzten Jungen eine Pistole vors Gesicht. Es geht ihm aber nicht darum, sich die Anerkennung, den Vermissten aufgespürt zu haben, auf die Schultern heften zu können, sondern um die Erkenntnis, dass es einfach nicht richtig wäre, durch den Tod eines Menschen auf welche Weise auch immer zu profitieren. „Suck my fat one!“, verhöhnt Gordie die unter Drohungen abziehenden Jungen. „Whoever told you you had a fat one?“, zieht ihn Chris später auf. – „Biggest one in four counties“, grinst Gordie.
In seinem Romanklassiker Das Böse kommt auf leisen Sohlen (1962) entwirft Ray Bradbury die Geschichte von zwei Freunden, Jim und Will, denen die Sehnsucht, älter zu werden, im Nacken sitzt, und von Wills Vater, der sich nichts sosehr wünscht, als wieder jung zu sein. Eines Nachts zieht das Böse in Form eines Jahrmarkts der unwiderstehlichen Verheißungen und falschen Versprechungen in die kleine Stadt ein. Auf einem Karussell kann man in der Zeit vor oder zurück fahren, kann älter oder jünger werden, vergisst dabei aber, wer man wirklich ist. Die Erzählungen von Ray Bradbury, dieses Träumers der amerikanischen Literatur, haben uns immer wieder zu Kindern gemacht, die mit leuchtenden Augen und roten Wangen durch geheimnisvolle Sommernächte streifen, denen der Wind durchs Haar fährt wie Geisterfinger, die über ein abgemähtes Feld laufen, dabei die Arme ausstrecken und sich frei wie Vögel fühlen, zu Jungen, die die Welt um sich herum mit allen Sinnen erleben, so intensiv wie später nie wieder – in dem Bewusstsein, dass schlichtweg alles möglich ist, dass sich sämtliche vorgestellten Schrecken und Wunder auch tatsächlich zutragen könnten. Das sind Kinder, denen es den Atem verschlägt ob der unendlichen Möglichkeiten unserer Welt und jener, die eigentlich nur in der Fantasie existiert und doch ab und zu Wirklichkeit wird. „Das war jene Woche im Oktober, in der sie über Nacht erwachsen wurden“, heißt es im Prolog von Das Böse kommt auf leisen Sohlen über Jim und Will, „in der ihnen das Jungsein entglitt.“
In der Rahmenhandlung von Stand By Me ist es ein erwachsener Gordie (Richard Dreyfuss), Schriftsteller und inzwischen selbst Vater, der auf seine Kindheit in den Fünfzigerjahren zurückblickt und sich wünscht, die Zeit zurückdrehen zu können. Nach ihrem Abenteuer kehren die vier Freunde als andere nach Castle Rock zurück. Gordie hat entschieden, die Leiche des verunglückten Jungen im Wald zurückzulassen, ein anonymer Telefonanruf bei der Polizei hat den Rest erledigt. Sie waren nur zwei Tage von zu Hause fort, doch als in den frühen Morgenstunden die ersten Häuser der Stadt vor ihnen auftauchen, erscheint ihnen diese verändert, kleiner. Eine Nacht zuvor haben sie sich noch bei der Wache im Wald vor unheimlichen Geräuschen gefürchtet, haben am Lagerfeuer über die Geschichte eines Kuchenesswettbewerbs mit drastischen Folgen gelacht und über Comicfiguren wie über reale Menschen diskutiert: „Mickey’s a mouse, Donald’s a duck, Pluto’s a dog. What’s Goofy?“ – „Goofy’s a dog. He’s definitely a dog.“ – „He can’t be a dog. He drives a car and wears a hat.“ – „Oh, God. That’s weird. What the hell is Goofy?“
Durch die Konfrontation mit der Unfassbarkeit des Todes sind die Jungen gereift; jetzt machen sie sich Gedanken über ihre Zukunft und welche Möglichkeiten ihnen in ihrem Leben darin offenstehen. Es sind wahrlich herzzerreißende Momente, wenn sie sich ihrer Wünsche und Träume, aber auch ihrer größten Ängste bewusstwerden. Eine stille Ode an die Freundschaft und eine der schönsten Coming-of-Age-Geschichten überhaupt: Aus dem melancholischen Ton des Films, der liebevollen Ironisierung seiner Figuren, der Einfühlsamkeit der vier tollen Jungdarsteller und der nostalgisch-romantischen Stimmung, fließen denn auch die letzten Sätze, die der erwachsene Gordie in seinen Computer tippt: „I never had any friends later on like the ones I had when I was 12.“ Und nach einem Moment der Reflexion: „Jesus, does anyone?“