Tote Menschen sehen

The Sixth Sense (USA 1999)

Achtung, Spoiler-Alert, hier geht es um den wohl genialsten Twist der Filmgeschichte. Auftritt Bruce Willis, einmal nicht als Actionheld, sondern als Kinderpsychologe Malcolm Crowe, gemartert von dem Gedanken, in der Betreuung eines seiner Patienten versagt zu haben – was im tragischen Selbstmord dieses Mannes endete. Der damals elfjährige Haley Joel Osment ist sein neuer Patient, Cole, und beinahe unglaublich intensiv in seinem Spiel aus überbordender Angst und der Sehnsucht, ein normales Leben führen zu können. Sein Problem offenbart er dem Psychologen, als die Verzweiflung für ihn nicht mehr auszuhalten ist und er nichts dringender braucht als einen echten Freund. Es ist abends, Malcolm sitzt an Coles Bett. Der Bub hat die Decke bis zum Kinn hochgezogen, er ist fast panisch. Dass er einen coolen kleinen Jungen getroffen habe, tastet sich der Psychologe vorsichtig an ihn heran, und dass er das Gefühl habe, ihm helfen zu können. Cole geht darauf ein: „I want to tell you my secret now.“ Und dann setzt geheimnisvolle Musik ein und die Kamera bewegt sich ganz langsam auf Cole zu und es fällt jener Satz, ein Flüstern voller Furcht, das zu einem der berühmtesten Zitate der Filmgeschichte werden sollte: „I see dead people.“ Ob er die Toten in seinen Träumen sehe, will Malcolm wissen, doch Cole schüttelt den Kopf. „While you’re awake?“, fragt der Psychologe nach. Der Junge nickt und präzisiert: „Walking around like regular people. They don’t know they’re dead.“ Und als uns die Gänsehaut ohnehin schon über den Rücken läuft, folgt die Frage, wie oft er diese Toten denn sehen würde. Darauf Coles erschütternde Antwort: „All the time. They’re everywhere.“ Die Bitte des so speziellen und von seinen Ängsten gemarterten kleinen Jungen ist fast ein Flehen: Ob Malcolm bei ihm bleiben könne, bis er eingeschlafen sei. Und endlich traut er sich, die Augen zu schließen.

M. Night Shyamalans Psychothriller ist voll solcher Gänsehautmomente, wir schaffen kaum, zwischenzeitlich einmal Atem zu holen, mal gruseln wir uns gewaltig, dann sind wir wieder zu Tränen gerührt. Etwa in jener Szene, in der Cole sich seine Mutter (Toni Collette) in einem Verkehrsstau feststecken. Dass hoffentlich niemand verletzt wurde, meint die Mutter. Dass eine Frau gestorben sei, antwortet ihr Cole. Die Mutter versucht, zum Unfallort zu blicken: „Where is she?“ – „Standing next to my window“, gibt Cole zurück. Da liegen die Nerven seiner Mutter blank: „You’re scaring me.“ – „They scare me too sometimes.“ Die Mutter: „They?“ Und Cole spricht vor ihr zum ersten Mal die Wahrheit aus: Dass er Geister sehe. „They want me to do things for them.“ Klarerweise ist diese Information nicht dazu angetan, die Mutter zu beruhigen. „You think I’m a freak“, interpretiert Cole ihren Gesichtsausdruck und gießt gleich auch noch Öl ins Feuer: Dass ihn auch seine verstorbene Großmutter manchmal besuchen komme. Und er erzählt, was sie ihm auszurichten aufgetragen habe: „She wanted me to tell you she saw you dance. She said, when you were little, you and her had a fight, right before your dance recital. You thought she didn’t come see you dance. She did. She hid in the back so you wouldn't see. She said you were like an angel.“ An ihrem Grab, fährt Cole fort, habe sie ihr eine Frage gestellt. “Every day”, sei die Antwort. Und weil sich seine Mutter nun nicht mehr zurückhalten kann, sie aufschluchzt und sich die Hände vors Gesicht hält, will er wissen, wie die Frage am Grab denn gelautet habe. “Do I make her proud.” Und der Junge, der zum Boten aus dem Jenseits geworden ist, fällt seiner Mutter in die Arme.

Der geniale Twist des Films kommt gegen Ende, und ich kenne niemanden, der ihn beim Kinostart des Films frühzeitig erraten hätte. Malcolm hat Cole dabei geholfen, seine Fähigkeiten zu akzeptieren, die Geister würden ihn nicht erschrecken wollen, sondern versuchten nur, ihm Unerledigtes aus ihrem Leben mitzuteilen. Nun geht es dem Psychologen um seine eigenen Eheprobleme. Er findet seine Frau im Wohnzimmer, sie ist beim Betrachten ihres Hochzeitsvideos eingeschlafen. Er beherzigt Coles Rat, doch mit ihr zu reden, wenn sie schläft, denn so müsse sie ihm zuhören. Sein Ehering rutscht ihr aus der Hand und rollt über den Boden, erst jetzt fällt ihm auf, dass er ihn nicht mehr trägt. Und da ist auch die Atemwolke vor dem Mund seiner Frau, da ist die Tür zum Keller, in dem Crowe den Film über gearbeitet hat, die nun aber verbarrikadiert ist, da ist mit einem Mal auch die Erinnerung an den Abend ein Jahr zuvor, als der Psychologe von dem ehemaligen Patienten nicht nur, wie anfangs gedacht, angeschossen wurde. Am Rücken ist sein Hemd auch jetzt noch blutig, und Malcolm sieht sich in der Rückblende sterben. Dass er selbst einer der Toten ist, die Cole gesehen hat, erkennt er auf einen Schlag, dass noch so Vieles in seinem Leben unerledigt war, es nun aber wirklich an der Zeit ist, loszulassen. „I think I can go now. Just needed to do a couple of things. I needed to help someone; I think I did.“ Und er flüstert seiner schlafenden Frau zu, wie sehr er sie liebt: „Everything will be different in the morning.“

Der Grund dafür, dass diese Auflösung so perfekt funktioniert, ist Shyalaman Ehrlichkeit, wenn er uns an der Nase herumführt. Das ist hier kein Widerspruch, weil der Film immer in sich stimmig und in den Grenzen, die die Handlung steckt, völlig logisch bleibt. „Entweder wir sehen es explizit oder überhaupt nicht“, merkt Marco Kreuzer für diese Darstellung des Übernatürlichen an und bezieht sich dabei auf die subtile Kameraführung von Tak Fujimoto; sie bleibt in erster Linie in der Rolle des Beobachters und passt sich dabei den physischen wie emotionalen Bewegungen der Figuren an. Manche Szenen sind auch in einer einzigen langen Kameraeinstellung mit verschiedenen Schwenks aufgenommen, etwa jene, in der Crowe seine Frau in einem Restaurant zu treffen scheint. Nils Westerboer beschreibt solche handlungsgeleitete Schwenks als Unterwanderung einer implizierten, aber in der Situation natürlich unmöglichen Erwiderung von Blicken des toten Malcolm Crowe durch seine Frau. Es ist diese höchste Kunstfertigkeit der Manipulation, gepaart mit dem ruhigen Erzählduktus und dem fantastischen Zusammenspiel zwischen den beiden Hauptdarstellern, die uns die Prämisse des Übernatürlichen und Horriblen als selbstverständliche Bestandteile der Normalität akzeptieren lässt.

Als Blicke ins Jenseits durch Risse im Gefüge der Welten, so empfinden wir das gedankliche Konstrukt eines Films wie The Sixth Sense. Aber vielleicht täuschen wir uns und es sind Blicke von der anderen Seite, die niemand anderen als uns im Visier haben.