Das Waisenhaus (El orfanato, Mexiko/Spanien 2007)
Wenn Träume fliegen lernen (Finding Neverland, USA/GB 2004)
Der kleine Junge, Peter Llewelyn Davis, sitzt auf einer Bank im Park. Gerade wurde seine Mutter begraben, der Vater ist schon lange tot. Jetzt fürchtet er, auch James Barrie zu verlieren, den väterlichen Freund. „So many perferct days“, hat James am Grab von Peters Mutter über die Zeit gesagt, die er mit der Familie, Peter, seiner Mutter und den Brüdern, verbracht hat, und dass er gedacht habe, es würde für immer so weitergehen. Dass nichts für immer sei, hat Peter ihn unterbrochen und ist davongelaufen. Jetzt, auf der Bank in den Kensington Gardens, ist er so allein, wie ein Kind nur sein kann. Da kommt James und versichert ihm: „I’m staying for good.“ – „I thought she’d always be here“, spricht Peter wieder über seine Mutter Sylvia. Und stellt schließlich die Frage, um die es eigentlich geht: „Why did she have to die?“
Um den Traum, nicht sterben zu müssen, oder besser erst gar nicht erwachsen zu werden, geht es in J. M. Barries berühmtem Theaterstück Peter Pan, das im London des beginnenden 20. Jahrhunderts Furore machte und dann auch in Romanform erschien. „All children, except one, grow up.“, lautet deren erster Satz. Dieser eine, der nicht erwachsen wird, ist die Titelfigur, und der Ort, in dem er zusammen mit den „lost boys“, der Fee Glöckchen, seiner mütterlichen Freundin Wendy und ihren Brüdern Abenteuer mit Meerjungfrauen, Indianern und Piraten erlebt, heißt Neverland. Dort existiert das für das Bewahren der Kindheit und des Kindlichseins bedrohliche Konzept von Zeit nicht, außer im Ticken der Uhr, die immer dann zu hören ist, wenn sich das Krokodil nähert, das einst die Hand von Captain Hook abgebissen und verschluckt hat. Hier muss man nur an etwas glauben, damit es passiert, und woran Peter Pan fest glaubt, sind die Unveränderlichkeit des Jetzt und die Unsterblichkeit.
Die Mutter sei glücklich gewesen, als sie das Stück über ihre Familie miterleben durfte, versucht Barrie auf der Parkbank den kleinen todtraurigen Peter zu trösten, „about her boys that never grow up.“ Sylvia war schon zu krank, um zur Premiere des Theaterstücks zu kommen, zu dem Barrie durch das Zusammensein mit ihr und den Jungen inspiriert wurde. Deshalb hat der Autor eine Aufführung im Wohnzimmer organisiert, an deren Ende die Türen zum Garten aufgegangen sind und Sylvia hinaustrat in ihr ganz persönliches Nimmerland. Peter könne sie dort besuchen, wann immer auch er dorthin gehe, meint Barrie. „How?“, fragt das Kind mit Tränen in den Augen. „By believing, Peter“, meint Barrie. „Just believe.“ Und Peter: „I can see her.“
Diese Schlussszene von Marc Fosters Finding Neverland, dem der unsägliche deutsche Titel Wenn Träume fliegen lernen verpasst wurde, ist ganz großes, herrliches Gefühlskino, bei dem wahrlich kein Auge trocken bleibt und Johnny Depp als J. M. Barrie Stichwortgeber ist für den damals zwölfjährigen wunderbaren Kinderdarsteller Freddie Highmore. Das subtil gesponnene Märchen über einige der Einflüsse auf die Entstehungsgeschichte von Peter Pan und die Macht der Fantasie überschreitet immer wieder in elegant inszenierter Weise die Grenzen verschiedener Wirklichkeitsebenen. Dadurch ermöglicht der Film nicht zuletzt Kate Winslet als todkranke Sylvia Llewelyn Davis eine ergreifende Sterbeszene, wenn sie die Stufen von ihrer Terrasse in den Garten hinuntersteigt und sie dort die Figuren aus Nimmerland willkommen heißen.
Um den Triumph der Imagination über die Realität geht es auch in dem spanisch-mexikanischen Horrorfilm Das Waisenhaus, hinter dem mit Regisseur Juan Antonio Bayona (Sieben Minuten nach Mitternacht) und Produzent Guillermo del Toro (Pans Labyrinth) zwei Meister des Unheimlichen mit emotionalem Tiefgang stehen. Diesmal ist es die Fensterbank in einem Schlafsaal, auf der die Hauptfigur sitzt und ihren toten Sohn in den Armen hält. „Dreams do come true, if only we wish hard enough“, sagt Peter Pan zu Wendy, seiner mütterlichen Freundin. „You can have anything in life if you will sacrifice everything else for it.” Laura, die Frau am Fenster, hat einen Fehler begangen und ist jetzt bereit, alles zu geben, und sei es ihr Leben, um ihn wieder gutzumachen. Sie hat die Geschichten ihres Sohnes Simón über seine neuen Freunde in dem großen alten Haus, in dem Laura und ihr Mann ein Kinderheim einrichten wollen, nicht ernst genommen. Sie selbst war es, die unabsichtlich die Tür zum Keller, in dem sich Simón versteckt hatte, verkeilt hat. So ist Simón seit Monaten tot, als Laura durch eine Art Schnitzeljagd, die die Geister von Waisenkindern mit ihr veranstalten, endlich auf ihn stößt. Doch für sie ist Simón, der in ein Laken gewickelt unter der Treppe liegt, am Leben. Sie nimmt ihn in den Arm, da erwacht das Haus zum Leben. Kinderstimmen erklingen, ein Dröhnen ertönt, und Laura fleht Simón an, nicht an die Geister zu glauben und ruhig zu bleiben. Ihr verzweifeltes Leugnen beendet den Spuk, und nun sieht sie Simón, wie er wirklich ist: ein schon mumifizierter Leichnam. „Everytime a child says 'I don't believe in fairies,' there's a a little fairy somewhere that falls down dead“, heißt es schon in Peter Pan. Auch Laura muss noch Einiges lernen über die Macht des Glaubens.
Vor seinem Tod hat der HIV-positive Simón die Abenteuer von Peter Pan gelesen und war davon überzeugt, selbst nie erwachsen zu werden. Jetzt hat Laura, die selbst einmal als Kind in diesem Waisenhaus lebte, seinen kleinen Leichnam in den Schlafsaal der Kinder getragen, die hier Jahre zuvor Tomás, dem missgestalteten Sohn der Erzieherin, einen bösen Streich spielten, der ihn das Leben kostete, und daraufhin von dessen Mutter ermordet wurden. Laura sitzt da und wiegt ihren toten Sohn in den Armen. Sie nimmt so viele Beruhigungspillen, dass sie sie kaum unten behalten kann, die Lider werden ihr schwer, ihr Kopf sinkt vornüber. Da erwachen die Schaukel vor dem Haus und dann auch das Haus selbst zu Leben, und aus dem nahen Leuchtturm, der seit Jahren nicht mehr in Betrieb war, fällt Licht durchs Fenster. Laura schlägt die Augen auf und sieht sich selbst als Kind durch den Garten laufen. Die Decke rutscht von Simón, der Junge fragt: „Mama, darf ich jetzt aufwachen?“ Und dann sitzen auch die Waisenkinder wieder in ihren Betten, sie kommen auf Laura zu, selbst der missgestaltete Tomás ist unter ihnen. Sie betasten ihr Gesicht und umringen sie wie eine wieder gefundene Freundin: „Das ist Laura. Sie ist alt geworden wie Wendy in der Geschichte.“
Und diese Geschichte zu hören, erbittet Simón von seiner Mutter. „Es war einmal in einem kleinen Haus am Strand, in dem die verlorenen Kinder wohnten“, beginnt Laura. „You know that place between sleep and awake, the place where you can still remember dreaming?“, fragt Peter Pan Wendy. „That’s where I’ll always love you. That’s where I’ll be waiting.” Die ungemein ergreifende Schlussszene von Das Waisenhaus vereint diese Kinder, die so Vieles mitmachen mussten, mit ihrer Ersatzmutter für die Ewigkeit. Auf diese Weise ist die erwachsene Wendy nach Neverland zurückgekommen, an den Ort, an dem alles möglich ist, wenn man nur fest genug daran glaubt.