Was wir aus Liebe tun

We Need to Talk About Kevin (GB/USA 2011)

 

Die Liebe zum eigenen Kind - wie vorbehaltlos ist sie, wie weit muss sie, kann sie, darf sie gehen? In seiner konsequent subjektiven Sichtweise und mittels elegant ineinander verschachtelter Szenen aus linearem Handlungsverlauf und Rückblenden verhandelt Regisseurin Lynne Ramsay diese ewige Frage wohl der meisten Eltern, zu einem verstörenden Kammerspiel der Entfremdung, das uns nicht weniger fesselt als die Hauptfigur in ihrem Leben und dem komplizierten Beziehungsgeflecht zu ihrem Mann und ihren beiden Kindern.

Denn darin sieht sich Eva, die Tilda Swinton auf berührende Weise zwischen Verletzlichkeit, Fassungslosigkeit und Stärke gibt, gefangen. Aus ihrem bewusst subjektiven Blickwinkel sehen wir eine Frau auf der Klippe zum Absprung aus diesem Gefängnis, das ihr Leben geworden ist, und weit und breit ist kein Fänger in Sicht, der sie davor bewahren würde. Wie ist sie dorthin gekommen, in das sprichwörtliche Roggenfeld, in dem ihr die Halme weit über den Kopf gewachsen sind, sodass sie weder ein noch aus weiß? Eva lebt in der Kleinstadt, in die sie als ehemalige Reisejournalistin gezogen ist, als sie zum ersten Mal schwanger wurde, als Geächtete: ihr Haus wird mit roter Farbe beschmiert, auf offener Straße versetzt ihr eine Frau eine Ohrfeige. In Rückblenden erfahren wir den Grund dafür, und dieser Grund heißt Kevin. Von Anfang an gelingt es Eva nicht, zu ihrem Erstgeborenen eine echte Beziehung aufzubauen. Schon als kleines Kind zeigt sich Kevin ihr gegenüber als gefühlskalt und reaktionsarm, man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass alle seine Handlungen darauf abzielen, die Mutter zurückzustoßen und zu kränken und den Vater und sie gegeneinander auszuspielen. Alles, was Eva liebt und schätzt, scheint Kevin stören und zerstören zu wollen, und sei es die kleine Schwester Celia, für deren Unfall mit Chemikalien, der sie ein Auge kostet, Kevin zumindest mitverantwortlich ist.

What is the point?“, fragt Eva einmal ihren Sohn. There is no point. That’s the point“, ist seine Antwort und der stechende Blick seines Darstellers Ezra Miller vertieft das Unbehagen, das seine Worte in uns erzeugen. In diesem Sinne versucht der Film erst gar nicht, mögliche Ursachen für Kevins Verhalten zu ergründen, er schildert dessen Auswirkungen auf Eva und ihre Beziehung zu ihrem Mann Franklin (John C. Reilly), dem gegenüber sich der Sohn stets freundlich und rollendeckend gibt. So sind der Bogen und die Pfeile, mit denen Kevin schließlich seine unverständliche Gewalttat setzt, ein Geschenk des Vaters. Trotz aller Feindseligkeit und der eiskalten Provokationen trifft Eva die Nachricht von einer Bluttat in Kevins Schule unvorbereitet; der erste Gedanke: dass doch hoffentlich dem eigenen Kind nichts passiert ist. Die Herzklopfenfahrt durch die Dunkelheit, die Polizeiwagen und die Feuerwehr bei der Schule, wo sich fassungslose, weinende, verzweifelte Eltern eingefunden haben, und dann die schockierende Einsicht: Kevin ist in diesem grausamen Spiel nicht das Opfer.

Dass er wie ein Star die Schule verlässt, als ob er nun erwarten würde, gefeiert zu werden, sein Grinsen in Richtung der völlig perplexen Mutter, als die Polizisten seinen Kopf auf eine Motorhaube drücken, kann einem schon ziemlich nahe gehen, da sind wir ganz bei Eva in ihrer Fassungslosigkeit. Die Leichen, die auf Bahren ins Freie gerollt werden und in denen noch die Pfeile stecken – Eva krümmt und windet sich, als würde sie in diesem Moment selbst getroffen. Die Szene setzt sich fort, als Eva heimkommt. Die offenen Türen zur Terrasse, die wehenden Vorhänge, das Geräusch der Rasensprenger aus dem Garten: Evas Mann und ihre kleine Tochter liegen im nassen Gras, hingerichtet wie die Opfer in der Schule. Und in einem Gegenschnitt verneigt sich Kevin vor der leeren Turnhalle, er breitet die Arme aus wie ein Priester oder auch ein Rockstar, während durch die Fenster die Polizeilichter blinken wie die Kameraflashes begeisterter Fans.

Am Schluss des Films besucht Eva ihren Sohn im Gefängnis; es ist zwei Jahre nach der Tat und sein 18. Geburtstag. Bei früheren Besuchen war da nichts als die gewohnte Feindseligkeit, etwa in einer gruseligen Szene, als Kevin sämtliche Fingernägel feinsäuberlich abbbeißt und in einer Linie vor seiner Mutter auflegt. Doch diesmal ist nicht nur anders, dass Kevins lange Haare einer Glatze gewichen sind. „You don’t look happy“, stellt die Mutter fest. Kevins Reaktion: „Have I ever?“ Und auf Evas Drängen, ihr doch endlich einen Grund für seine Tat zu nennen: „I used to think I know. Now I’m not so sure.“ Beim Abschied umarmt Eva ihren Sohn, und erstmals gibt er schwankend unter ihrer Stärke nach. Dann verlässt sie den Raum und geht durch einen Korridor dem Licht hinter der offenen Tür entgegen. Von Mother’s last words to her son“, singt Washington Phillips im leicht weinerlichen Countryton. Vor dem Besuch im Gefängnis hat Eva noch Kevins Gewand gebügelt und sein Zimmer geputzt. Sie ist immer für ihn dagewesen, doch ob sie das noch so sein wird, wenn er einmal aus dem Gefängnis kommt, scheint jetzt, in diesen letzten Momenten des Films, unklar. Vielleicht hat Eva gelernt, dass sie nicht für ewig für Kevin verantwortlich sein kann, sondern es auch um sie selbst geht.