Zwölf Uhr nachts - Midnight Express (Midnight Express, USA/GB 1978)
Wie ein Mensch, wie seine Seele, mehr und mehr hinter einer Wand verschwindet, wie sie sich dahinter verbirgt aus Angst, verhöhnt und geschlagen und missbraucht zu werden, wie sich dieses eingeschüchterte Ich dann aber wieder öffnet, allen Mut zusammennimmt und die Schritte setzt, die es auf dem Rückweg in die Freiheit braucht, das zeigt Alan Parkers Gefängnisdrama in intensiven Bildern und dem ebensolchen Spiel des Hauptdarstellers Brad Davis. Dabei ist das kein Film ohne Fehl und Makel. Oliver Stones (unverständlicherweise mit einem Oscar ausgezeichnetes) Drehbuch setzt dicke Striche in schwarz und weiß und keine Nuancen in der Charakterzeichnung: die Türken sind die Bösen bis zur Karikatur, die Amerikaner die edlen Guten, und ein Schwede macht der Hauptfigur zwar schwule Avancen, akzeptiert dessen Zurückweisung aber ohne Wenn und Aber. Sogar William Hayes, der im Jahr 1970 als Student wegen des Versuchs, Haschisch aus der Türkei zu schmuggeln, erst zu „nur“ vier Jahren Gefängnis, dann aber zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und auf dessen Erinnerungen Parkers und Stones Adaption basiert, kritisierte nach dem Start des Films den krassen Dualismus, der in der Erzählung zum Beispiel keinen Raum für seine türkischen Freunde lasse.
Und doch gibt es in dem Streifen wahrhaftige Momente, die die Unsicherheit, die Nacktheit, die völlige Ausgeliefertheit von Menschen gegenüber einem System der Unterdrückung und der Folter freilegen, einem System, das sich um so etwas wie Menschlichkeit nicht kümmert. Da ist die Szene, in der Billys Vater seinen Sohn im Gefängnis besucht. Er bringt ihm Essensvorräte, Zigaretten, Schreibpapier, zählt alles auf und fegt es im nächsten Augenblick vom Tisch. „If I could be where you are, I’d be there“, versichert er ihm unter Tränen. Wie schon so oft das Versprechen, alles Erdenkliche für Billys Freilassung zu tun, dabei klammern sich die Hände der beiden aneinander und müssen sich doch wieder voneinander lösen, denn hinter der Gitterabsperrung ist bereits der Leiter des Gefängnisses aufgetaucht, selbst Vater von zwei Kindern, die er auch mal zur Beobachtung der Bestrafung von Insassen mitnimmt. Dass er seinen Sohn gut behandeln solle, ruft Billy Vaters dem Wärter noch nach und ist sich doch seiner absoluten Machtlosigkeit bewusst.
Später, nach Jahren des Hoffens, wird Billys Strafe ausgeweitet. Nach dem Scheitern eines Fluchtversuchs durch das Abwassersystem unter dem Gefängnis kippt in Billys Gehirn ein Schalter. Ein Spitzel beschuldigt einen Mitgefangenen (John Hurt als Althippie) des Dealens mit Drogen, dieser wird auch sofort zur Bestrafung abgeführt. Kaum sind die Wärter aus dem Trakt verschwunden, fallen in Billy alle Schranken, die für ihn inmitten all des Schmutzes und des Schmerzes einen Rest von Zivilisation aufrechterhalten haben. Billy stürzt sich auf den Informanten, er drischt mit Stühlen und Krügen und allem auf ihn ein, was er in die Hände kriegt, er reißt die Waschbecken und Wasserleitungen aus ihren Verankerungen und tobt wie ein Wahnsinniger, und dann hämmert er den Kopf seines Gegners gegen steinerne Stufen und beugt sich zu dem Blutüberströmten, beißt ihm die Zunge aus dem Mund und spuckt sie von sich.
Billy befindet sich in der Nervenheilanstalt des Gefängnisses, als er in der berührendsten Szene des Films Besuch von seiner Freundin Susan bekommt. Er hat sie seit dem Tag nicht mehr gesehen, als er am Flughafen mit den Drogen aufflog. In einer Baracke stehen sie einander nun wieder gegenüber, eine Glasscheibe trennt sie, und Billy hat nur Augen für ihre Brüste. Dass sie die Bluse ausziehen solle, drängt er sie, bittet er sie wie ein Verdurstender um Wasser. Unter Tränen drückt Susan ihre Brüste gegen die Scheibe, Billy küsst die Stelle immer und immer wieder und masturbiert dabei und sinkt schließlich in sich zusammen: „I love you!“ Ein Moment, der eine Kettenreaktion aus wiedergefundener Selbstachtung, der Erfahrung des verloren geglaubten Ich im Du gegenüber, und dem Gelingen der Flucht aus dem Gefängnis in Gang setzen wird.
Für seine beeindruckende Leinwandpräsenz wurde Brad Davis mehrfach ausgezeichnet, er galt damals als besonders vielversprechender Nachwuchsdarsteller. Wenn wir heute den Film wiedersehen, richtet die Kenntnis von seiner AIDS-Diagnose und die 1991 absichtlich herbeigeführte Überdosierung von Drogen tragisches Schlaglicht auf Implikationen, die damals noch im Dunkeln lagen.