Zwielicht (Primal Fear, USA 1996)
Zeugin der Anklage hieß die Adaption des Theaterstücks von Agatha Christie, in dem Marlene Dietrich 1957 auf höchst clevere Weise ein manipulatives Täuschungsmanöver zum Zwecke der Beeinflussung ihres Anwalts Charles Laughton und in weiterer Folge eines Gerichtsurteils abspulte. Den Überraschungeeffekt eines filmischen Twists mindestens dieser Qualität hat Gregory Hoblits Primary Fear für uns parat. Richard Gere als aalglatter Staranwalt Martin Vail ist rollendeckend besetzt, doch es ist Edward Norton in seinem Schauspieldebut als der mordverdächtige Aaron, der den Film im Zusammenspiel mit Gere durch all die langen Dialogszenen in Zellen, Verhörräumen und im Gerichtssaal in vibrierender Spannung hält. Es geht um den Mord an einem Erzbischof, Aaron sei in den Räumlichkeiten anwesend gewesen, soll aber ohnmächtig geworden sein. Was vorerst für Aaraon spricht, ist ein fehlendes Motiv, der Erzbischof habe ihn einst von der Straße geholt und sei für ihn eine Art Vaterfigur gewesen. Der stotternde Aaron mit einem stets leicht verwirrten Blick und dem so offensichtlich liebenswert-sanften Wesen – selbst der erfolgreiche Anwalt, der betont, dass es für ihn nicht wichtig sei, ob der Angeklagte, den er verteidigt, die Tat nun begangen habe oder nicht, zweifelt nicht an seiner Unschuld.
Natürlich bleibt die Sachlage nicht so offensichtlich, denn nun taucht ein Video auf, das Aaron und seine Freundin beim Sex zeigt – der Erzbischof habe sie zu diesen Handlungen gezwungen. Auftritt Roy, Aarons zweite, selbstbewusstere und recht aggressive Persönlichkeit. Roy offenbart sich einer Psychologin, er macht sich über den Schwächling Aaron lustig – „textbook multiple personality disorder“ benennt sie seine Krankheit, wir haben es also anscheinend mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun. Roy erscheint der logische Täter zu sein, was Aarons Gedächtnisverlust und seine Nähe zum Tatort zu erklären vermag. Doch Vail kann Aarons Schuldunfähigkeit infolge einer Geisteskrankheit aufgrund des im amerikanischen Strafprozesswesen üblichen Verbotes der Änderung einer einmal eingeschlagenen Verteidigungslinie nicht nutzten, was ihn zu einem Trick greifen lässt: Bei Aaarons Kreuzverhör provoziert er diesen, aus Aaron wird Roy – und die Sache für die Richterin und Geschworenen sonnenklar.
Denkt der Anwalt, denken wir alle. Doch dann kommt diese geniale Szene, in der sich Vail, ganz der stolze Staranwalt, der aufgrund seiner Cleverness wieder einmal einen Prozess gewonnen habe, von Aaron verabschiedet. Kindliche Freude und Dankbarkeit sind diesem ins Gesicht geschrieben, als er Vail umarmt: „You saved my life!“ Er scheint keine Erinnerung an die Szenen im Gerichtssaal zu haben, als Roy die Staatsanwältin beschimpft und bedroht hat, und richtet Vail dennoch Wünsche der guten Besserung an die Staatsanwältin aus. Vail wird stutzig, da macht sich Aaron bereits über ihn lustig: Von wem er die Wahrheit denn hören wolle, von Roy oder Aaron – egal, es sei dieselbe Geschichte. Er stottert wieder, gleich darauf strahlt er selbstsicher und bezeichnet den Mord als „fucking work of art“. Ob es denn nie einen Roy gegeben habe? Doch Vail irrt abermals: Es habe nie einen Aaron gegeben, triumphiert Roy und fasst die Verhandlung zusammen: Dass sie ein großartiges Team gewesen seien – „It was like we were dancing.“
Als Sieger in dem, was sich als veritables Match zweier Alphamännchen herausgestellt hat, wird Roy nach einiger Zeit in der Psychiatrie bald freigehen; der Anwalt hingegen ist zum Verlierer geworden, desillusioniert verlässt er das Gerichtsgebäude, untermalt von der für solche Szenen inzwischen typischen tragisch-traurigen Trompetenmusik. Für die Rolle des Aaron/Roy wurden angeblich über zweitausend Schauspieler, unter ihnen Matt Damon und Leonardo DiCaprio, gecastet. Edward Norton, so kann man lesen, betrat schließlich das Vorsprechzimmer, stotternd und als unsicherer Typ so überzeugend, dass er vom Fleck weg engagiert worden sei. Was sich beim staunenden Betrachten der faszinierenden Doppelbödigkeit seiner Darstellung nach wie vor als Glücksfall erweist.