Das folgende Interview führte der Verlag HOMO Littera am 5. September 2014 anlässlich der Publikation der Novelle Der Stammbaum. Es wurde auch auf der Homepage des Verlags veröffentlicht.

 

Hallo Paul. Vor Kurzem ist dein Buch „Der Stammbaum“ erschienen. Du schreibst über zwei Familienväter, die sich heimlich für Sex in einer Wiener Wohnung treffen. Wie ist diese Idee entstanden?

 

Paul: Ich weiß, dass es viele solcher „Sexfreundschaften“ gibt; manche bestehen nur kurze Zeit, andere über Jahre hinweg. Sie können aber nur funktionieren, wenn absolute Ehrlichkeit zwischen den beiden Männern besteht, was ihre Bedürfnisse betrifft und die Grenzen, mit denen ihre Beziehung abgesteckt ist: ein sehr erwachsenes Miteinander-Umgehen. In einem solchen Fall ist beides möglich – die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse, aber auch echte Freundschaft. Das ist der Punkt, an dem meine Fantasie eingesetzt hat: Was wäre, wenn dieses fragile Gleichgewicht durch äußere Umstände gestört würde, im Fall der zwei Protagonisten meiner Novelle durch den Unfalltod einer der beiden Ehefrauen. Und diese dramatische Idee habe ich dann weitergesponnen …

 

Deine beiden Protagonisten scheinen perfekt zueinanderzupassen. Und doch sind sie unterschiedlich. Vor allem Stefan hält an seiner Familie fest und würde sie niemals aufgeben. Denkst du, dass im wahren Leben eine Beziehung, wie Stefan und Paul sie zu Anfang führen, möglich ist?

 

Paul: Sie ist möglich, unter den Umständen, die ich oben beschrieben habe. Für wie lange Zeit, ist eine andere Frage. Ich kenne einen Fall in meinem Freundeskreis, in dem sie sechs Jahre lang gehalten hat und in dieser Zeit für die Beteiligten absolut okay war. Die Umstände, die zu ihrer Beendigung führten, waren in Wirklichkeit andere, „banalere“, als sie die Prämisse meiner Novelle einführt. In diesem Sinne habe ich die Realität dramatisiert; was viele Einzelheiten der Geschichte betrifft, hat sie sich tatsächlich so zugetragen.

 

Stefans Frau Gudrun weiß von den Liebschaften ihres Mannes. Obwohl sie darüber schockiert ist, duldet sie seine Affären mit Männern, solange er sie nicht in die Familie trägt. Nach außen hin will sie den Schein wahren. Zurzeit berichten auch immer wieder Medien darüber, dass berühmte Persönlichkeiten eine Scheinehe führen. Warum, denkst du, versucht man für die Öffentlichkeit ein Bild einer Vorzeigeehe aufrechtzuhalten?

 

Paul: Ich bin der Letzte, der Scheinheiligkeit verteidigen würde. Die Frage ist meinem Empfinden nach aber recht harsch formuliert. Jeder Mensch soll die Möglichkeit haben, seinen Weg zu finden, ohne Besserwisserei oder Verurteilungen von außen. Ich wünsche mir Respekt vor der Vielfalt der Möglichkeiten, solange es für alle Beteiligten passt. Das Lebenskonzept, das für einen gut ist, kann man nur selbst finden. Die Scheinehen berühmter Persönlichkeiten gab es schon immer, Rock Hudson ist das vielleicht prominenteste Beispiel. Damit habe ich keine persönlichen Erfahrungen, das hat mit den Karrieren der Betroffenen zu tun und findet auch in unserer angeblich so aufgeklärten Zeit immer noch statt. Was ganz normale Familien betrifft, die zusammenbleiben wollen, obwohl einer der beiden Partner auch schwule Neigungen hat: Wenn grundsätzlich in der Ehe alles passt, wenn sich die Eheleute wirklich lieben und sich zusammen ein Leben aufgebaut haben, das dieser Liebe entspricht, wenn zusätzlich vielleicht auch Kinder da sind – wieso soll man das alles aufgeben? Und es in eine vielleicht ländliche oder kleinstädtische Umwelt hinauszuposaunen – was soll das bringen? In nicht wenigen Fällen wohl immer noch Nachteile im beruflichen Umfeld. Als Voraussetzung für das Funktionieren eines solchen Lebenskonzepts sehe ich, dass es zwischen den Partnern keine Lüge gibt. Ob die Kinder dann auch „eingeweiht“ werden, müssen die Beteiligten miteinander klären. So zu leben, wie es einem selbst entspricht, kann ein mitunter langer Lernprozess sein. Die Frage, die für mich dabei im Zentrum steht: Ist es vermeidbar, Menschen, die man liebt, im Verlauf der eigenen Selbstverwirklichung Schmerz zuzufügen? Darum geht es ja auch in meinem ersten Roman „Damals ist vorbei“ aus 2009, der jetzt gerade neu aufgelegt wurde. Kurz gesagt: Diese Art zu leben wird in der Mehrzahl der Fälle aber wohl nicht auf Dauer funktionieren. Ich kann mir vorstellen, dass der nur allzu menschliche Parameter der Gefühle der Beteiligten ab einem gewissen Punkt nicht mehr mitspielt.

 

„Der Stammbaum“ spielt in Österreich. Dementsprechend hast du auch typisch österreichische Wörter beim Schreiben verwendet. Aus anderen Interviews mit dir weiß man, dass du darauf besonderen Wert legst. Warum ist das für dich so wichtig?

 

Paul: „Sprache bedeutet Leben“, habe ich den Autor Peter Turrini heute Vormittag in einem Radiointerview betonen hören. Und das Leben, das ich in meinen Texten beschreibe, braucht als Ausdrucksmittel die dafür adäquate Sprache. Sie ist das Medium, mit dem Autoren arbeiten. Meinen eigenen Stil zu finden, war und ist ein langer Prozess des In-mich-Hineinhörens, des Ausprobierens und Verwerfens. Mir geht es um die Stimmigkeit, die innere Logik meiner Geschichten – nicht nur, was die Charaktere und die Orte, sondern natürlich auch, was die Sprache betrifft. Und meine Muttersprache ist eben nun einmal das österreichische Deutsch. Das Deutsche hat verschiedene Spielarten, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen: das norddeutsche, bayerische, schweizerische und österreichische Deutsch. Die Dominanz von Verlagen aus dem norddeutschen Raum hat aber dazu geführt, dass allenthalben die anderen Idiome als „minderwertig“ angesehen werden; zumindest habe ich manchmal diesen Eindruck. Sogar sehr bekannte österreichische Autorinnen und Autoren haben darunter zu leiden. Lest mal in Kinderbücher von Christine Nöstlinger hinein – selbst sie schafft es anscheinend nicht, Ausdrücke zu verhindern, die in das Umfeld dieser spezifischen Geschichten absolut nicht passen. Der Druck so mancher Lektoren, alles in einen faden deutschen Einheitsbrei zu pressen, ist zuweilen enorm. Da sollte man sich als Autor auch manchmal „Nein“ sagen trauen – ein diktatorisches Ändern meiner Texte akzeptiere ich nicht. Insofern wurde mir der Umstand, dass ich auf meine spezifische Sprache besonderen Wert lege, auch ein wenig von außen aufgezwungen. Ich denke aber, ich habe mit meinen Verlagen hier ein gutes Einvernehmen erlangt: Sollte der eine Ausdruck für den Verleger unakzeptabel sein, der andere aber für mich, dann lässt sich mit etwas gutem Willen ein anderer finden, der für beide Seiten passt. Auch diese Arbeitsweise hat mit gegenseitigem Respekt zu tun – und sollte nicht gerade uns ein solcher Umgang miteinander besonders wichtig sein? Nehmen wir Romane aus dem angelsächsischen Raum – die Eigenheiten des Irischen, des Amerikanischen, des Englischen geben verschiedenen Texten ihren ganz unterschiedlichen Reiz. Wir sollten es im Deutschen auch so halten. Meine Texte spielen in ganz genau definierten Umfeldern, in Wien, im Wald- und Weinviertel, und auch meine Figuren sind Österreicher. Wieso sollten sie Norddeutsch reden oder in der Beschreibung ihrer Lebensumwelt solche Ausdrücke finden? Ein Beispiel: „Er hat gesessen“ bedeutet bei uns einfach, dass jemand im Gefängnis war; wieso soll es ein Problem sein, „er ist gesessen“ zu schreiben? Ich hoffe, dass meine Leserinnen und Leser das auch verstehen. Umgekehrt würde ich auch in einem Roman, der in Hamburg spielt, dortigen Charakteren keine wienerischen Ausdrücke in den Mund legen. Und ich kenne Leserinnen und Leser meiner Bücher, für die gerade meine eigene Schreibweise charmant wirkt.

 

Wie sieht dein Schreibprozess aus? Was ist für dich dabei wichtig?

 

Paul: Die Ideen gehen mir immer ziemlich lang, oft Jahre, im Kopf herum. Da gibt es dann Notizen en masse, oft auch recht genaue Planungen der Kapitel und ihrer Inhalte. Meine Geschichten fließen aus dem jeweils ersten Satz; der muss passen, dafür gibt es manchmal unzählige Versuche, in anderen Fällen stand der erste Satz, bevor ich genau wusste, wo die Geschichte eigentlich hin will. Der erste Satz muss stimmig sein, ich habe einmal drei Jahre dafür gebraucht, aber passt er, dann habe ich in ungefähr zwei Monaten das Manuskript fertig. Meine Bücher sind ja grundsätzlich keine allzu dicken; meistens kriege ich von Lektoren die Anregung, doch das eine oder andere Kapitel noch dazuzuschreiben, was der Tiefe der Charakterzeichnungen oft ziemlich guttut. Jedenfalls denke ich in der Schreibphase fast nur an die Geschichte und träume auch davon – und bin dann echt erleichtert, wenn die Arbeit des Schreibens getan ist, die ich oft als extrem anstrengend empfinde, noch dazu, da ich ja auch einen recht fordernden Brotberuf habe.

 

Deine Romane beinhalten oft die Thematik von Männern im Zwiespalt zwischen bürgerlichem Leben und schwulen Neigungen. Warum wählst du gerade dieses Thema?

 

Paul: Ja, das scheint tatsächlich zu „meinem“ Thema geworden zu sein. Ich finde diesen Zwiespalt immens spannend und glaube auch, dass mehr Männer in dieser Art von Konflikt gefangen sind, als man denkt.

 

In einem Interview sagte unsere Verlegerin Romy Leyendecker einmal, dass sie wie Martin Luther King einen Traum hat: Sie glaubt fest daran, dass eines Tages alle Menschen gleich sind und nicht aufgrund ihrer Sexualität verurteilt werden. „We are unstoppable!“ sagte auch die Königin Europas, Eurovision Song Contest-Gewinnerin Conchita Wurst. Sie hat viele Menschen zum Umdenken bewegt. Hoffst du selbst, mit deinen Büchern zur Toleranz und Akzeptanz Homosexueller beizutragen? Sind wir „unstoppable“?

 

Paul: Ich weiß nicht, ob viele Heteros meine Bücher lesen – es wäre interessant, das mal herauszufinden. Insofern kann ich nicht sagen, ob meine Texte zu mehr Toleranz beitragen. Wobei das lateinische Wort „tolerare“ nichts anderes heißt als „ertragen“, also einen Blick von oben nach unten impliziert. Deshalb möchte ich eher die Worte „Akzeptanz“ und „Respekt“ verwenden. Was ich weiß, ist, dass unter meinen Lesern viele Männer sind, die sich mit meinen Charakteren und ihren Geschichten identifizieren können, weil sie selbst Ähnliches erlebt haben. Ich hoffe, dass dieses furchtbare Auseinander-Dividieren der Menschen eines Tages nicht mehr stattfindet: Dass einfach jeder lieben darf, in wen er sich eben verliebt, und es kein Problem ist, diese Liebe auch nach außen zu zeigen. Davon, dass Conchita – die ich im Übrigen sehr verehre – Einiges bewirkt hat, bin ich aber überzeugt. Das konnte ich in letzter Zeit auch in meinem Umfeld beobachten.

 

Was dürfen sich deine Leser zukünftig von dir erwarten? Wirst du deinem Genre treu bleiben, oder wechselst du in eine andere Sparte?

 

Paul: Mit dem Roman „Die Hände meines Freundes“ (Arbeitstitel), der im kommenden Jahr bei HOMO Littera herauskommen wird, ist das letzte meiner belletristischen Manuskripte veröffentlicht. Ich trage tatsächlich die Idee für einen weiteren Roman in mir, doch da stehe ich noch ganz am Anfang. Die Hauptfigur wird auch ein Mann sein, der etwas älter ist als ich, da muss ich noch einige Lebenserfahrungen machen, denke ich. Ich habe die letzten beiden Jahre aber fieberhaft an einem Manuskript gearbeitet, das für mich, aber auch ganz allgemein für das, was im schwulen medialen Segment momentan angeboten wird, etwas ganz Neues darstellt. Es handelt sich um ein Sachbuch, das mit Filmen zu tun hat, eine Sammlung von Essays, mehr möchte ich jetzt noch nicht verraten. Ich hoffe aber, dass dieses Projekt wirklich realisiert werden kann, denn darin steckt all mein Herzblut. Auf der Seite des Verlags ist damit extrem viel redaktionelle Arbeit verbunden. Meine Arbeit des Schreibens ist getan, nun liegt der Ball beim Verlag …

 

Wir bedanken uns für das Interview und wünschen dir weiterhin alles Gute und viel Erfolg!

 

Paul: Die Fragen waren zum Teil sehr anspruchsvoll – es hat Spaß gemacht, sie zu beantworten.