Aufblende: Blicke

 

Diesmal begann alles mit einem Blick. Nicht mit einem aus Bette Davis’ von Kim Carnes so poetisch besungenen Augen, sondern mit dem des von Timothée Chalamet verkörperten Elio, der, selbstvergessen und mit dem Schicksal der unglücklichen Liebe hadernd, ins flackernde Licht eines Kaminfeuers starrt. Meine Anspielung auf die herzzerreißende Schlussszene von Call Me By Your Name ist wohl offensichtlich. Was sich in diesen über vier ungeschnittenen Minuten im Gesicht und darin primär in den von Tränen glänzenden Augen des ungemein talentierten jungen Schauspielers abspielt, sucht in Bezug auf die Tiefe von ganz widersprüchlichen Gefühlen seinesgleichen – dem Glück, echte Liebe gefunden, und der Traurigkeit, diese Liebe wieder verloren zu haben. Auch in meiner Brust wohnten zwei Seelen. Ich verspürte Freude, an dieser gran diosen Szene in Luca Guadagninos wunderbarer Verfilmung von André Acimans nicht minder gelungenem gleichnamigem Roman teilhaben zu dürfen, auf der anderen Seite Unzufriedenheit, nicht in der Lage gewesen zu sein, sie in die Reihe der Gänsehautmomente in Gay Movie Moments aufgenommen zu haben – schlichtweg aus dem Grund, dass der Reaktionsschluss für das Buch in seiner ersten Auflage lang vor dem Erscheinungstermin des Films lag.


„...With one look/I put words to shame/Just one look/Sets the screen aflame ...“ In ihrer großen Arie beschwört Norma Desmond, der ehemalige Stummfilmstar in Andrew Lloyd Webbers Musicaladaption von Billy Wilders Boulevard der Dämmerung (Sunset Boulevard, 1950) ein letztes Mal ihre große Zeit herauf, als es nicht Worte, sondern Augen und Bli-
cke waren, die Filmszenen zum Leben erweckten. Sie weiß um die damalige Wirkung ihrer Ausstrahlung: „One tear from my eye/Makes the whole world cry.“ Im Fall von Elios Blicken ins Feuer war mir gleich bewusst, dass ich über diese Szene und den Film schreiben würde, und wäre es auch nur für mich selbst. Dieser erste Filmtext gab den nächsten, und ohne zu diesem Zeitpunkt an die Möglichkeit eines zweiten Bandes mit meinen Essays über schwule Streifen auch nur zu denken, geriet ich abermals in den Bann großer filmischer Momente aus neuen Produktionen und älteren, die ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekannt hatte. Dass daraus eine solche Vielzahl an Texten würde, die dieses vorliegende Buch mit dem Titel More Gay Movie Moments füllen, hätte ich am Startpunkt meiner neuerlichen Expedition in die Schätze des schwulen Films nicht gedacht. Das Resultat von drei Jahren Arbeit liegt nun in Form von Essays zu rund fünfzig Filmen und Serien vor; sie verdienen hoffentlich mehr als einen flüchtigen Blick, so wie die Szenen, die sie analysieren, es definitiv wert sind, mit all der Lust und Hingabe betrachtet zu werden, die diese Themen, diese Geschichten und ganz besonders natürlich die Charaktere verdienen, die zu jenem filmischen Leben erweckt werden, zu dem wir im besten Fall so etwas wie einen persönlichen Bezug finden.


Im Nachwort zu der unter dem Titel How to Write an Autobiographical Novel (2018; Wie man einen autobiografischen Roman schreibt) veröffentlichten Sammlung von Essays des amerikanischen Autors mit koreanischen Wurzeln Alexander
Chee interpretiert Daniel Schreiber dessen Texte als „safe space“, als sicheren Raum für den Autor und seine queeren Leser:innen, der ihnen die Gelegenheit schenke, ihren vielen möglichen Ichs nachzuspüren und herauszufinden, wie es sich anfühlen könnte, die Masken zu tragen, die das Leben ihnen bietet – mit ihnen zurechtzukommen und vielleicht die richtige für sich selbst zu finden. Chees beste Essays, so Schreiber, würden „die queeren Heranwachsenden in uns ansprechen, die sich in der Bibliothek verstecken und in Büchern Antworten auf die Fragen suchen, wie sich dieses schwierige Leben gestalten lässt.“ Oder – gespiegelt auf das Thema von schwulen Filmen – eben in einem dunklen Kinosaal, auf dessen hell erleuchteter Leinwand wir in die Seele von Protagonisten blicken, die der unseren ähnelt.


Ums Leben und Überleben inmitten von Gesellschaften, die dafür keine Vorbilder geben können, dreht sich auch der – thematisch nicht queere – Film All Day and a Night (2020), eine düstere Milieustudie von Joe Robert Cole, dem Co-Autor von Black Panther. Anhand der Geschichte eines jungen Schwarzen namens Jahkor, dargestellt von Ashton Sanders,
den wir aus dem Oscar-Gewinner Moonlight kennen, befasst sich die Handlung mit Themen wie alltägliche Gewalt und soziale Verwahrlosung. Jahkor gerät in einen Bandenkrieg und wird wegen Doppelmordes zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt. Seine zynisch anmutende Selbstreflexion lässt uns aufhorchen: „Die Sklaverei hat Schwarzen
Überleben beigebracht, aber nicht, wie man lebt – und das geben wir einander weiter.“ Dieses Narrativ, das Rassismus verhandelt, kann auf Homophobie umgelegt werden, ecken die Lebensentwürfe so mancher Betroffener doch oftmals an der Engstirnigkeit dessen an, was sich als Mainstream im alleinigen Besitz von Regeln und Wahrheiten wähnt. In der Erfahrung von Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber dem Weg jenseits heteronormativen Verhaltens, so desgleichen Alexander Chees Schlussfolgerung, werde man vielleicht auch „menschlicher“ gegenüber sich selbst. Von der Gefahr des
Selbsthasses zur Akzeptanz des eigenen Ichs: In der Entdeckung unseres Selbst waren es vor anderen Menschen für viele von uns Bücher, Filme und Serien, die uns diese ganz spezielle Form von Liebe entgegenbrachten, die das Ich im Wir zu stärken vermag.


„Die einzige Freude auf der Welt ist das Anfangen. Es ist schön zu leben, weil Leben Anfangen ist, immer, in jedem Augenblick“, hat der italienische Schriftsteller Cesare Pavese einmal gesagt. Bezugnehmend auf die Arbeit an More Gay Movie Moments, traf für mich die Freude zu, wieder mit dem Schreiben über Gänsehautmomente in schwulen Filmen und
Serien begonnen zu haben; am Anfang jedes Textes stand ein Film, stand das Staunen über die so unterschiedlichen Herangehensweisen an eine Figur und ihre Geschichte, die die Kreativität der Beteiligten an jenen Streifen auszeichnen, die Eingang in diese Sammlung gefunden haben. Die Freude zu Beginn, aber auch die Freude, beim näheren Betrachten Neues, Fesselndes, Faszinierendes zu entdecken diese Entdeckungen dann in die Sprache meiner Essays zu fassen, hat mich durch die gesamte Arbeit an dem Buch begleitet.


Noch ein Wort zu Zitaten und der Art und Weise, wie wir sie in diesem Buch anführen. Es steht außer Frage, dass allein die Originalversion eines Films dessen Atmosphäre authentisch zu vermitteln weiß. Man muss ja nicht so weit gehen wie beim Beispiel der Verstümmelung von Hitchcocks berühmtem Thriller Notorious (1946) mit Ingrid Bergmann und Cary Grant,
der 1951 unter dem Titel Weißes Gift (später: Berüchtigt) in einer deutschsprachigen Kinofassung herauskam. Da man so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dem Publikum keine Nazigeschichte zumuten wollte, wurden sämtliche diesbezügliche Referenzen entfernt und durch den Handlungsfaden einer Drogenstory ersetzt. Doch auch schlechte Synchronisation und – im Fall von schwulen Filmen wird oftmals in keine deutsche Fassung investiert – gar nicht so
selten unkorrekte Untertitel vermitteln die Gewissheit, in der jeweiligen Originalversion besser aufgehoben zu sein. Für zusätzliche Verwirrung mögen zuweilen beträchtliche Diskrepanzen zwischen Untertiteln und Auszügen aus Drehbüchern oder Zitierungen sorgen, die im Internet allenthalben aufzuspüren sind. Aus diesen Gründen haben wir uns wie im ersten Band dazu entschlossen, wörtliche Zitate, wann immer möglich, im Original zu belassen – dies scheint uns in erster Linie, weil wohl weitgehend verständlich, in Bezug auf die englische Sprache zielführend und möglich zu sein. Da diese Annahme aber natürlich nicht auf weitere Sprachen ausgedehnt werden kann, haben wir Zitate aus anderssprachigen
Büchern in der deutschen Übersetzung und aus Filmen, deren Originalversion abseits von Deutsch oder Englisch gedreht wurde, mangels praktikabler Alternativen in der deutschen Version der Untertitel verwendet.


Doch genug der Theorie. Löschen wir wie schon beim ersten Mal die Lampen im Saal und folgen wir mit unseren Augen voller Spannung dem Lichtstrahl, der auf die Leinwand fällt und sie mit dem Leben magischer schwuler Filmmomente erfüllt. Denn jede neue Geschichte beginnt mit einem Blick.


Paul Senftenberg, im März 2022