Schwules Kino zum Lesen

Von Erwin In het Panhuis (queer.de am 19. 8. 2023)

 

Paul Senftenberg hat es wieder getan: Nach "Gay Movie Moments" (2017) ist nun "More Gay Movie Moments" erschienen – ein absoluter Gewinn für die schwule Filmgeschichtsschreibung. An dem neuen Buch des niederösterreichischen Autors Paul Senftenberg "More Gay Movie Moments. Neue schwule Gänsehautmomente in Filmen und Serien" (2023) gefällt mir fast alles. Er hat eine große Bandbreite an Filmen besprochen, was sich auf das Produktionsjahr, auf die Themen und die Herkunftsländer bezieht.
Sein 2017 erschienenes erstes Buch "Gay Movie Moments" wurde als "Plädoyer für die Kraft des Kinos" gewürdigt. Das ist eine Einschätzung, die ich uneingeschränkt auch für sein zweites Buch teilen kann. Senftenberg verfügt über eine große Ausdruckskraft, um all die Emotionen, Bilder, Gedanken und auch Hintergründe zu den jeweiligen Filmen auf eine eindrucksvolle und mitreißende Weise zu beschreiben.

 

Weniger ist mehr

Mittlerweile gibt es nicht nur viele gute Schwulenfilme, sondern auch viele gute Bücher zu schwulen Filmen, an denen sich Senftenberg messen lassen muss. Zum Glück widersteht er der Versuchung, möglichst viele Filme in sein Buch zu packen. Was bei einem solchen Versuch herauskommen kann, zeigt das schwul-lesbische Filmlexikon "Images in the Dark" von Raymond Murray (1995), das 3.000 Filme ein bisschen, aber keinen Film so richtig behandelt. Nach Senftenberg verdienen es schon einzelne Filmszenen, mit aller "Lust und Hingabe betrachtet zu werden" (S. 12). Im Ergebnis beschreibt er deshalb "nur" etwa 50 Filme und "Call Me by Your Name" sogar ausführlich auf zehn Seiten (S. 84-93). "Images in the Dark" mag das 60fache an Filmen besprechen, kommt dem Geist des queeren Kinos dadurch aber nicht näher als Senftenberg.

Filmkunst und Schreibkunst
Die Faszination von Filmen liegt in ihrer einzigartigen Fähigkeit, Geschichten und Emotionen mit visuellen und auditiven Mitteln zu erzählen. In seinem Buch beschreibt der Autor "die Freude, beim näheren Betrachten Neues, Fesselndes, Faszinierendes zu entdecken". Was er meint, ist die von ihm beschriebene Filmkunst. Doch es lässt sich genauso gut auch auf seine Schreibkunst übertragen, womit es die Leser*innen gleich mit zwei schönen Künsten zu tun haben: Mit der Kunst, einen schönen Film zu drehen, und mit Senftenbergs Fähigkeit, einzelnen Filmszenen einen tieferen Ausdruck zu verleihen. Mit bildhafter Sprache macht er Stimmungen, Konflikte und Empfindungen in Filmen greifbar.
In seinen persönlich wirkenden Essays gibt es keinen distanzierten Blick aus großer Entfernung, sondern Senftenberg kommt den Protagonisten so nah wie möglich. Seine Texte sind eher für den Bauch als für den Kopf geschrieben. Das, was ich an seinen Texten loben kann und hervorheben möchte, lässt sich wohl am besten mit Zitaten aus seinem Buch zu einigen bekannteren Filmen verdeutlichen.

 

Historisches Durchdringen – "Bent"

Der Film "Bent" (1997) fängt mit dem Auftritt einer faszinierenden Dragqueen (D: Mick Jagger) und wilden Sexszenen im Berlin der 1930er Jahre an, um begreiflich zu machen, was die Nazis danach alles zerstört haben. Die sexuell freizügigen Szenen zu Beginn des Films spielen 1934 und sind nach Senftenberg "fernab jedes Anspruches auf historisch korrekte Rekonstruktion" (S. 26-29) inszeniert worden. Das hat er recht diplomatisch, aber auch deutlich genug formuliert. Es ist schade, dass die Verantwortlichen des Films, der so eindrucksvoll das Leiden von Homo­sexuellen in einem KZ beschreibt und so nachhaltige Filmszenen geschaffen haben, tatsächlich glaubten, zu Beginn mit viel Erotik als Eyecatcher punkten zu können. Senftenberg kennt die Geschichte der Homo­sexuellenverfolgung im Faschismus und hat nicht nur die eindrucksvollen Szenen im KZ, sondern auch die Eingangsszene von 1934 gut erfasst. Für Schwule gab es keine Goldenen Zwanzigerjahre und Ende Januar 1933 war schon alles zerschlagen, was es an sichtbarer Szene gab.

Mut zur Improvisation – "Total Eclipse"
Ich habe erfolglos versucht herauszufinden, warum der Film "Total Eclipse" (1995) über die Liebe von Paul Verlaine und Arthur Rimbaud (D: Leonardo DiCaprio) so heißt. Senftenberg schreibt dazu: Eine "totale Sonnenfinsternis ist ja ein Ereignis, bei dem die Natur den Atem anzuhalten scheint. Für den wesentlich älteren Verlaine ist der erst sechzehnjährige Rimbaud die Sonne, die er nach ihrem Kennenlernen in Gedanken, Worten und Werken umkreist. Die Gleichung funktioniert aber auch umgekehrt: Der junge Poet sieht im bereits arrivierten Dichter jenen Stern, der ihn anzieht und nicht mehr loslässt" (S. 74). Es war bestimmt auch für Senftenberg unklar, was sich die Verantwortlichen bei dem Titel genau gedacht haben, aber er liefert damit eine gute und mögliche Interpretation des Titels.

Passende Worte für Gefühle und Farben – "Moonlight"
Auch etwas Kluges über den Mond und seine Bedeutung in "Moonlight" (2016) zu schreiben ist nicht so einfach, wie es sich zunächst anhört. In Wikipedia steht: "Juan versucht das Selbstbewusstsein des Jungen mit einem metaphorischen Bild zu stärken, nach dem schwarze Jungen im Mondlicht blau aussehen." Ein Schwarzer fühlt sich also besser, wenn er nicht schwarz, sondern blau erscheint?! Bei Senftenberg liest sich das so: In "Moonlight" "erscheint die Haut der Protagonisten im Schein des Mondes blau, was als Symbolik für das Suchen und Finden der eigenen Schönheit, des wahren Selbst, zu verstehen ist" (S. 117).
In meiner queer.de-Serie "Schwule Symbole im Film" wird es am 26. November 2023 auch um die Sonnenfinsternis in "Total Eclipse" und den Mond in "Moonlight" gehen. Ich werde dann Senftenberg zitieren, weil er die passendsten Worte zu diesen beiden Filmen gefunden hat.

Kein Buch zum Eben-mal-was-Nachschlagen – "Théo & Hugo"
Zum Eben-mal-was-Nachschlagen ist Senftenbergs Buch weder gedacht noch geeignet. Ich hatte beim Lesen manchmal nicht das Gefühl, ich hätte ein Filmlexikon zur Hand, sondern als würde ich einen Roman zum Film lesen oder als ob der jeweilige Film eine gut gemachte Literaturverfilmung nach einem Roman von Senftenberg wäre. Es hat mich nicht wirklich gewundert, dass Senftenberg bisher größtenteils Romane veröffentlicht hat. Bei ihm gehen Sachliteratur und belletristische Ausdrucksweise eine gekonnte Verbindung ein.
Aber er beschreibt nicht nur anschaulich und mitreißend die Filmhandlungen, sondern ist auch ein feinsinniger Beobachter des ganzen technischen Drumherum – was noch schwerer zu fassen ist als Handlungen und Dialoge. So schreibt er zu "Théo & Hugo": "Das Leben dieser Nacht in langen flüssigen Einstellungen – der Cutter (…) setzt seine Schnitte selten, unmerklich und so elegant, dass sie fließend und ganz und gar unaufgeregt den Blickwinkel des jeweilig vorigen Bildes aufnehmen" (S. 158). Und er findet auch die richtigen Worte, um diesen Film treffend zu beurteilen: "Eine seltene Glaubwürdigkeit durchdringt diesen teils charmanten, teils melancholischen Film."

Musik liegt in der Luft – "Don't Ever Wipe Tears Without Gloves"
Senftenberg weist darauf hin, dass in "Don't Ever Wipe Tears Without Gloves" (2012) in einer Schwulenbar "This is my life!" gespielt wird (S. 191). Ich frage mich, welchen Zuschauer*­innen das ebenfalls aufgefallen ist und in welchen der vielen anderen schwulen Filme ähnlich passende Lieder gespielt werden. Ich gebe zu, dass mein musikalisches Feingefühl weniger stark ausgeprägt ist. Selbst wenn mir bei dem Film "Sturm über Washington" (1961) aufgefallen wäre, dass in einer Schwulenbar aus der Musikbox Frank Sinatra mit dem Text "Let me hear a voice, a secret voice" zu hören ist, hätte ich dies vielleicht für einen Zufall gehalten. Aber eine solche Musikauswahl wird in einem Film nie dem Zufall überlassen und es ist gut und notwendig, wenn das Kinopublikum darauf hingewiesen wird.

Spannende Hintergründe – "Oscar Wilde"

Senftenberg nimmt sich nicht nur für einzelne Filmszenen viel Zeit, sondern stellt Vergleiche zwischen Filmen und Regisseuren an und recherchiert zu einzelnen Schauspielern, die den schwulen Rollen erst ihre Glaubwürdigkeit verleihen. Seine Besprechung von "Oscar Wilde" (1997) fängt eher unüblich mit Wildes Grabstein auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise an und endet auch mit diesem Grabstein. Niemand hat bei diesem Film je bezweifelt, dass Stephen Fry die Idealbesetzung für Wildes Rolle ist. Aber niemand hat das für mich bisher so gut auf den Punkt gebracht wie Senftenberg: Stephen Fry sei "wie für diese Rolle gemacht: seine Ähnlichkeit mit Wilde, seine Statur, sein flamboyantes Wesen, seine Bereitschaft, in der Verkörperung die eigene Seele freizulegen" (S. 208).

Einen schön bebilderten Artikel samt Gewinnspiel gab es am 12. 9. 2023 auf queer.de:

https://www.queer.de/detail.php?article_id=46945

 

Umfangreich -

sehr viele Hintergrundinformationen -

Hommage an die schwule Filmwelt

Von Mediennerd (mediennerd.de), 20. September 2023

 

More Gay Movie Moments von Paul Senftenberg ist eine Fortsetzung seines ersten Bandes Gay Movie Moments und erneut eine fesselnde Reise durch bewegende Momente schwuler Charaktere in Filmen und Serien. Die Essays in diesem Buch behandeln eine beeindruckende Bandbreite von Themen und Epochen, die das Streben nach Liebe und Akzeptanz von schwulen Charakteren in der Filmwelt beleuchten. Senftenberg verwebt geschickt Hintergrundinformationen zu den Filmen, Regisseuren und Darstellern mit persönlichen Gedanken und Reflexionen. Seine klugen und oft humorvollen Analysen nehmen den Leser mit auf eine intellektuelle Reise, die von Musik und Literatur bis zur Psychologie und Philosophie reicht. Dabei verliert er nie den Bezug zur Leidenschaft für das schwule Kino und die Magie, die es in diesen Filmmomenten einfängt.

Das Buch ist nicht nur eine Hommage an die schwule Filmwelt, sondern auch eine Einladung, diese Werke zu entdecken oder erneut zu genießen. Senftenbergs Schreibstil ist fesselnd und unterhaltsam, und seine Begeisterung für das Thema ist spürbar. More Gay Movie Moments ist eine Liebeserklärung an bewegende Filmszenen und ein Buch, das jedem, der das Kino liebt, wärmstens empfohlen werden kann.

 

Diese tolle Grafik hat meine liebe Autorenkollegin Jana Walther als Banner für die Zoom-Lesung aus More Gay Movie Moments bei #allabendlichqueer am 22. Dezember 2023 entworfen.

 

Hier der Link zur Aufzeichnung der Lesung:

https://us02web.zoom.us/rec/play/GnLAgp02X_memTRgohvlXnVbjwWeHzCd-JUbAAGEvIFY9dVAKaDAphCQtyjjOaKlCStSHbK-VeKQhv01.Ogw_SAoC7BvfqRZZ?canPlayFromShare=true&from=share_recording_detail&continueMode=true&componentName=rec-play&originRequestUrl=https%3A%2F%2Fus02web.zoom.us%2Frec%2Fshare%2F6_0SfzmA4BR6HoroitXt9cDcthcu_V2-CmFl5ChDE6bstUYTIYNlO2-Hhcwgtnej.Ih8XfNozXkpYrk1N