Damals ist vorbei

(Erstes Kapitel)

 

Zweiundzwanzig Jahre

 

Zweiundzwanzig Jahre früher, an einem späten Nachmittag im Sommer, fiel Martin etwas auf, das aussah wie ein im Wasser tanzendes Stück Holz. Beim Näherkommen aber entpuppte sich das Stück Holz als ein Junge. Wie in einem Lasso gefangen hing der Junge an einem Seil. Das Seil war an einem dicken Ast befestigt, der am Ufer ein Stück über den Fluss ragte, und dem Jungen straff unter den Achseln um die Brust geschlungen. Der Junge trieb so auf dem Rücken und mit seitwärts weggestreckten Armen in der Donau. Das tiefe Licht streifte in winzigen Blitzen über das, was vom Körper dieses Jungen aus den Wellen ragte. Teile des Gesichts, der Brust, der Arme und Beine und ab und an die nackten Zehen tauchten auf und verschwanden einen Moment darauf bereits wieder im Wasser; es flirrte und flackerte um den Jungen herum und über ihn hinweg, dass Martin ganz schwindelig wurde.

     Hier im Auwald unweit des Alberner Hafens befand sich der sogenannte Friedhof der Namenlosen, hier hatte man über lange Zeit die aufgedunsenen Leiber von Selbstmördern begraben. Die meisten von ihnen waren in ihrer Seelenpein von der nahen Reichsbrücke gesprungen, einige an einer anderen, privateren Stelle ins Wasser gegangen. Eine als Wechsel bekannte Strömung die Donau abwärts hatte sie gepackt und ziemlich genau an dieser Stelle angeschwemmt.

     Kein Wunder also, dass Martin im ersten Moment an ein Stück Treibholz, dann an eine Wasserleiche gedacht hatte. Doch dieser Junge war nicht tot. Das stellte sich heraus, als Martin nach dem Seil griff und nur einmal kurz daran ruckte und sogleich Leben in den Körper kam: wie ein Fisch an einer unsichtbaren Angelschnur zuckte er nach links und rechts, sodass auch Martin einige Spritzer Donauwasser abbekam, als er das Seil packte und den Jungen zu sich ans Ufer zog.

     Dort rappelte sich der Junge hoch und wand sich mit hastigen Bewegungen aus dem Seil. Triefend nass, mit zerstrubbelten Haaren, nacktem Oberkörper, nackten Beinen und einer kurzen Hose, die ihm an den Oberschenkeln klebte, stand er vor Martin, leicht vornübergebeugt und die Finger ständig in Bewegung. Martin sah die Zornesfalten zwischen den Brauen des Jungen, als dieser ihm auch schon mit beiden Händen einen Stoß versetzte, der ihn rücklings zu Boden warf.

     Was er denn glaube, schrie der Junge von oben auf Martin hinunter, und seine Stimme kippte dabei. Er lief drei, vier fahrige Schritte weiter, bevor er sich wieder umdrehte. Ob er vielleicht glaube, dass er sich umbringen wollte?

     Und bevor Martin etwas sagen konnte: „Will ich aber nicht.“ Mit dem trotzigen Nachsatz: „Und wenn ich’s wollte, dann würde ich mich schön bedanken, wenn da einer daherkommt und sich als Held aufspielt!“

     Weg war er mit diesen Worten, und Martin lag im Gestrüpp im Auwald, das hier am Donauufer so hoch wucherte, dass ihn weder ein Spaziergänger an Land, noch ein Ruderer auf dem Wasser bemerkt hätte. Martin blieb einige Zeit lang so liegen. Über ihm tanzte das Sonnenlicht zwischen den Blättern wie vorhin auf den Wellen. Die Worte des Jungen, die er mit seiner rauen Stimme hervorgestoßen hatte, klangen in seinen Ohren noch nach. Dabei hatte er nicht die leiseste Ahnung, was er über diesen seltsam zornigen Jungen, der keine Leiche war, denken sollte. Aber aufhören, an ihn zu denken, konnte er nicht.