(Kapitel 1 und 2)
Umgekehrte Rollen
Zeit seines Lebens hatte Hans das Gefühl, seinen Sohn vor allem denkbaren Unbill in Schutz nehmen zu müssen. Jetzt liegt er nach einem zweiten Schlaganfall in seinem Bett und ist unfähig, aus eigener Kraft auch nur aufs Klo zu gehen. Wenn er spürt, dass er die Bettpfanne braucht, drückt er auf die Schnellruftaste des Telefons. Manchmal ist Markus im Haus, dann ist er gleich bei ihm. Wenn er zu anderen Zeiten bei seinen Verrichtungen draußen auf dem Friedhof ist, dauert es länger, bis er seine Schritte auf der Treppe hört. Ihm ist bewusst, dass er seinen Sohn von der Arbeit abhält, doch er hat keine andere Wahl. Er trägt zwar Windeln, darauf hat Markus bestanden, aber die sind nur für den Notfall. Wenn irgendwie möglich möchte sich Hans die Demütigung ersparen, dass sein Sohn seine volle Windel entfernen muss. Die Bettpfanne ist für ihn das geringere Übel, trotz der Peinlichkeit, wenn ihm Markus die Schüssel unter den Hintern schiebt und zur Seite schaut, während Hans sich erleichtert. Er hört Markus dann auf der Toilette und im Badezimmer hantieren, hört das Wasser rauschen, wenn er die Pfanne auswäscht, und kann ihm erst wieder in die Augen schauen, wenn er damit zurückkommt und sie, sauber und glänzend, neben das Bett stellt.
Die Rollen haben sich umgekehrt; jetzt ist Hans auf Markus angewiesen. Während der endlosen Stunden, in denen er allein im Bett liegt oder am Fenster und in seinem Rollstuhl auch mal unten vor dem Haus sitzt, beides mit Blick auf den Friedhof, wälzt Hans Bauer Gedanken wie diesen. Sein Sohn redet nicht viel mit ihm, er war nie sehr mitteilsam. Er erledigt die Handgriffe, die nötig sind und die ihm die Pflegerin, die einmal täglich vorbeikommt, um nach Hans zu sehen, beigebracht hat. Er wäscht den Vater, kocht Essen für ihn und hilft ihm dabei, kleine Bissen in den Mund zu schieben, sollte Hans’ Hand wieder einmal zu sehr zittern. Er stützt ihn auf dem endlosen Weg zu dem Sessel am Fenster, den Hans unter Anleitung eines Physiotherapeuten zu gehen gelernt hat und den er jetzt selbst an guten Tagen nur mit Markus’ Hilfe, mit großer Anstrengung und mit vorsichtigen, kleinen Schritten zurückzulegen vermag. Zu anderen Gelegenheiten trägt Markus seinen Vater die Treppe hinunter ins Wohnzimmer; mit den Muskeln, die er sich antrainiert hat, ist das keine allzu große Mühe für ihn. Er richtet ihn auf dem Sofa vor dem Fernseher ein oder schiebt den Rollstuhl bei schönem, aber nicht zu heißem Wetter eine Runde auf den Wegen zwischen den Gräbern. Und immer wenn Hans einen Blick auf sein Gesicht erhascht, trägt sein Sohn dieses schmale Lächeln auf seinen seltsamen Zügen und ist für ihn so undurchschaubar, wie er es schon als Kind war.
Hans hat wenig Ahnung von Markus’ Leben abseits seiner Tätigkeiten auf dem Friedhof. Während der langen einsamen Stunden kriegt Hans die Vorstellung aber nicht aus dem Kopf, dass es da sehr wohl Dinge geben könnte, vor denen er ihn bewahren sollte.
Augen
Groß, dunkel und weit aufgerissen starren die Augen aus dem Wasser. Kein Zwinkern oder Zucken im Gesicht, eingerahmt vom dunklen Tang treibender Haare. Auch keine Bewegung des Körpers, der nackt und schmal und bleich unter dem grellen Licht der Deckenleuchten in der Wanne liegt. Die Arme dieses Körpers liegen an den Seiten, die Beine sind leicht angewinkelt, sodass die Knie spitz aus dem Wasser ragen und am Ende der Wanne auch die Füße darunter Platz finden. Die Reglosigkeit eines Leichnams. Kein Atmen, nur Stille; die Zeit vergeht ohne merkliche Auswirkungen auf den Jungen in der Wanne.
Auf einmal drängt sich eine kleine Luftblase zwischen den Lippen hervor. Noch bevor sie an der Wasseroberfläche zerplatzt, klappen die Augenlider zu und setzt sich Lukas mit einem Ruck auf. Wasser spritzt hoch und über den Rand der Badewanne und rinnt auch aus Lukas’ Locken. Sein Brustkorb wölbt sich vor, die Haut ist straff über den Rippen gespannt; mit einer Art Röcheln saugt der Junge Luft in seine Lungen. Dann zieht er die Knie hoch und mit den verschränkten Armen bis zur Brust; der Kopf sinkt nach unten und sein Rücken wird krumm. So sitzt er eine Weile da und rührt sich dabei wieder nicht. Die Wellen, die er vorhin in der Wanne erzeugt hat, ebben ab, die Oberfläche des Wassers ist wieder ruhig.
Allein Lukas’ Atmen ist nicht regelmäßig, es ist ein Japsen zwischen ganz stillen Momenten. Doch plötzlich umklammern seine Hände den Rand der Badewanne. Lukas zieht sich hoch und steht im Wasser. Abermals ist keine Kraft in seinem Körper und hält er eine Zeitlang inne. Wie vorhin ist sein Kopf gesenkt, die Lider sind halb geschlossen. Seine Lippen sind fest aufeinander gepresst und halten das Zucken des Mundes in Zaum.
Endlich steigt Lukas aus der Wanne. Er geht zum Waschbecken, dabei kümmert er sich nicht um die nassen Tritte, die er auf den Fliesen hinterlässt. Der Spiegel über dem Becken ist beschlagen. Lukas wischt mit der Hand mehrmals darüber. Er hebt den Kopf und schaut sich selbst in die Augen. Es ist, als stünde sein Spiegelbild im Regen.