Gay Movie Moments

Vorspann - Eine Liebeserklärung

 

Es begann mit einem Kuss. Im Jahre 1927, an der Schwelle zum Zeitalter des Tonfilms, stehen in William A. Wellmans Wings die beiden Freunde Jack (Charles Rogers) und David (Richard Arlen) im Mittelpunkt bombastischen Weltkriegsgeschehens. Der Titel ist Programm: Alles dreht sich ums Fliegen. Hinzu kommt die Freundschaft zwischen zwei feschen Piloten, die sich für Frauen nicht interessieren – ganz besonders, als Jack im Unwissen, dass sich sein Freund in einer deutschen Maschine soeben in Sicherheit zu bringen versucht, diese vom Himmel schießt. Die folgende herzzerreißende Szene des Abschiednehmens vermag auch nach fast neunzig Jahren zu rühren und wird in diversen Foren aufs Heftigste diskutiert. Als „Brokeback before Brokeback“ bezeichnen die einen den angeblich ersten homosexuellen Kuss der Filmgeschichte, wohingegen sich an anderer Stelle die Sichtweise vom „first same-sex kiss“ ohne dezitiert schwule Bedeutung durchgesetzt hat.

Jedenfalls ist es ein wahrer Gänsehautmoment des Kinos: Diese warmherzigen Blicke, die innigen Umarmungen, das Kraulen in den Haaren des anderen, der Schmerz in Jacks Augen, als ihm klar wird, dass es keinen Sinn mehr hat, einen Arzt herbeizurufen. Dann Davids Bitte: „Don’t go, Jack! Just stay here with me – for a little while.“ Die Zärtlichkeit, als Davids Hand über Jacks Wange streicht. Und dann dieser Kuss. Beim genauen Betrachten ist es eher ein Kuss auf die Wange oder den Mundwinkel als direkt auf Davids Lippen. Entlarvend erscheinen mir jedoch die letzten Worte zwischen den beiden Männern: Nichts in der Welt würde ihm mehr bedeuten als ihre Freundschaft, versichert Jack dem Sterbenden in seinen Armen – und darauf die Antwort: „I knew it – all the time.“ Was genau wusste David? Geht es wirklich nur um Freundschaft oder nicht doch um viel mehr?

Eine Ansichtssache. In seinem Meisterwerk The Kid (1921), das auf bis zu diesem Zeitpunkt unerhörte Weise Komödie und Sozialdrama verknüpfte, küsst Charlie Chaplin in einer dramatischen Szene seinen Ziehsohn Jackie Coogan auf den Mund – in einer Heftigkeit, wie man es heute nicht mehr darstellen würde. Man muss versuchen, die Theatralik der Gesten und das Quäntchen mehr an gezeigten Emotionen im Schauspiel des Stummfilms mit den Augen von damals zu sehen. Ob der Kuss in Wings nun ein schwuler war, kurz bevor der Moralkodex des „Production Code“, in anderen Worten die Zensur, Derartiges für viele Jahrzehnte aus Hollywoodfilmen verbannte, oder doch „nur“ ein Kuss zwischen zwei Männern, wollen wir deshalb dahingestellt lassen. Zweifellos ist bei den beiden Beteiligten eine gehörige Portion Gefühl im Spiel. „Das Leben eines Menschen ist ein einziger Versuch, über die Umwege der Kunst wieder die wenigen Minuten wach werden zu lassen, in denen sich sein Herz zum ersten Mal öffnete“, sagte Albert Camus einmal. In diesem Filmmoment für die Ewigkeit sind die Herzen der Beteiligten weit offen.

Auf die Spur solcher schwuler Augenblicke habe ich mich gemacht, und ich habe sie in den Filmen entdeckt, die in diesem Band versammelt sind. Wobei manche von ihnen streng genommen gar nicht unter die Bezeichnung des „queer cinema“ fallen – bei Disney und Bond kommt man wohl nicht gleich auf eine solche Einordnung. Es geht mir um einzelne Szenen, und darin um schwule Charaktere. Die Gänsehautmomente überwältigen uns mit ihrer Kraft und Schönheit, ihrer Coolness oder Poesie, ihrer Tragik und Traurigkeit, dem Schrecken, der in ihnen wohnt, oder der Lebensfreude, die sie zu vermitteln wissen. „Jedes Bild erzählt von einem emotional aufgeladenen Moment innerhalb eines narrativen Davor und Danach“, lautet eine Interpretation der von Hitchcock, David Lynch und Wim Wenders sowie den Gemälden von Edward Hopper inspirierten Fotografien von Formento & Formento. Solche magische Bilder stellen den Ausgangspunkt meiner Texte dar.

Als er einmal gefragt wurde, woher er denn seine Ideen habe, antwortete der große amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury: „I listen to the voices in my head, and write what they tell me.“ So lasse ich die Bilder auf der Leinwand auf mich wirken, und was damit in meinem Kopf und meinem Herzen passiert, schreibe ich auf. Die daraus entstandene Sammlung an Texten legt keinen Wert auf filmhistorische oder chronologische Vollständigkeit und möchte schon gar keine Best-of-Liste sein. Das Buch stellt auch keine wissenschaftliche Analyse in Bezug auf die akademische Debatte dar, ob ein Film nun wirklich zum queeren Kino zählt oder nicht und ob es als positiv oder negativ zu werten ist, dass schwule Filme in den letzten Jahren aus dem Untergrund getreten sind und im Mainstream angekommen zu sein scheinen.

Hingegen sind meine Texte ein Nachdenken über Szenen, deren Intensität mich tief berührt hat. Diese Qualität ist das alleinige Kriterium meiner Auswahl, die ich in sechs Kapitel zu den vorherrschenden Themen des Genres gegliedert habe: vom schwulen Leben im Geheimen und der Einsamkeit, die damit verbunden ist, über die mitunter schwierigen Schritte zum Coming-out, die Liebe in verschiedenen Lebensaltern, diversen mit Homosexualität verbundenen Klischees und dem Stolz, schwul zu sein, bis hin zu Geschichten, die sich ums Sterben drehen. In diesem Sinne würde ich mir wünschen, meine Interpretationen, diesen „Stream of Consciousness“, der von einzelnen Momenten ausgeht, als Hommage verstanden zu wissen, als – verwenden wir das große Wort – Liebeserklärung an schwule Filme, Szenen oder zuweilen auch an Darsteller und ihre Filmfiguren. Deshalb sind sie genauso subjektiv, wie die Liebe nun einmal ist.

Die Lampen im Saal gehen aus, der Projektor beginnt zu surren und schickt auf seinem Lichtstrahl diese ganz besonderen Bilder auf die Leinwand – magische schwule Filmmomente. Enjoy.