Hände

(Erstes Kapitel)

 

Die Fresken

 

In der Nacht vor seinem dreizehnten Geburtstag zerstörte Paul Kilian mit Hilfe von Hammer und Meißel die Hände der männlichen Figuren auf den spätromanischen Fresken in der Kirche von Obergrabern. Paul stieg durch ein Seitenfenster der Sak­ristei in die Kirche. Damit der Herr Pfarrer nichts davon bemerkte, hatte Paul auf den Moment gewartet, bis sich der Priester nach der Abendandacht das Messkleid über den Kopf zog; dann hatte Paul das Fenster rasch einen Spalt geöffnet. Er war der einzige Ministrant gewesen, und der Herr Pfarrer hatte schon vor der Andacht wieder einmal merklich zu viel getrunken und auch bei der Wandlung dem Messwein kräftig zugesprochen, wie das seine Art war. Deshalb hatte Paul nicht wirklich Angst gehabt, dass seine Aktion auffliegen würde.

     Sein Plan stand bereits seit geraumer Zeit fest, ein Rucksack lag gepackt unter seinem Bett. Paul stellte sich schlafend, als die Mutter wie jeden Abend vor dem Zubettgehen einen Blick in sein Zimmer warf und „Gute Nacht!“ flüsterte. Zu dieser Zeit war seine Mutter bereits schwer krank; sie hatte nicht mehr viel Kraft in sich, dessen war sich Paul bewusst, sie war leicht zu täuschen. Die Gefahr, dass auch der Vater nach ihm sah, bestand nicht. Der Vater schlief meistens vor dem Fern­seher ein, er schnarchte dabei laut, und nichts konnte ihn wach kriegen. Wenn er dann mitten in der Nacht aufwachte, ging er ins Bett, ohne sich darum zu kümmern, wie viel Lärm er machte. Auf die Idee, seinem Sohn eine gute Nacht zu wünschen, war er noch nie gekommen.

     Als Paul sicher sein konnte, dass die Mutter im Elternschlafzimmer am Ende des Flurs, der Vater vor dem Fernseher und auch der Herr Pfarrer im Pfarrhaus hinter der Kirche tief und fest schliefen, zog er sich, ohne Licht zu machen, Hemd und Hose an, holte den Rucksack unter dem Bett hervor und schlich aus dem Gebäude.

     Im Dorf war es still, es war keiner mehr unterwegs. Beim Überqueren des Kirchenplatzes sah Paul zum Turm hoch. Einige dunkle Wolken zeichneten sich vor dem Nachthimmel ab, sie brodelten, als kochte in ihnen, was sie vom Mondlicht aufgefangen hatten. Paul verschwendete keinen Gedanken an sie und kletterte stattdessen in die Sakristei.

     Paul Kilian hatte nicht die Absicht, die gesamten Fresken zu zerstören. Er liebte es, die Wandmalereien zu betrachten. Oft ging er in die Kirche und stand dann lange Zeit vor den lebensgroßen Abbildungen von Jesus, den Aposteln und heiligen Männern und Frauen. Die leicht geneigten Köpfe, die stillen, in sich ruhenden, von langen Haaren eingerahmten Gesichter, die großen offenen Augen und das sanfte Lächeln auf den Lippen berührten sein Herz. In blassen Grün-, Braun- und Rottönen flossen die weiten Gewänder, heller waren die Heiligenscheine und die Sterne am Himmel, der die Szenen nach oben hin begrenzte.

     Paul kannte die Malereien in- und auswendig. Dennoch ging er in dieser Nacht geraume Zeit in der dunklen Kirche umher, in der er ganz allein war und seine Schritte die einzigen Geräusche erzeugten. Er überlegte nicht, was zu tun war, denn in diesem Punkt gab es für ihn keine Frage. Er genoss den Schimmer des Mondlichtes, das durch die Fenster der Apsis fiel und im Kirchenschiff eine geheimnisvolle Stimmung hervorrief. Er setzte sich in eine der Bänke, atmete langsam ein und aus und rührte sich kaum, als wollte er hier bis zum Morgen bleiben.

     Paul trug die gelockten schwarzen Haare schulterlang und ließ sie sich über die Augen hängen, um die Ader zu verbergen, die sich von seiner linken Schläfe etwa drei Zentimeter schräg über die Stirn zog. Wenn er ruhig und entspannt war, war die Ader kaum zu sehen. Wenn er sich aber insgeheim über seinen Vater oder einen der Mitschüler aufregte, begann sie anzuschwellen: Sie blähte sich auf, als wollte sie platzen. Das Blut schoss in solchen Momenten durch die Ader, die pochte und pul­sierte, dass Paul zuweilen meinte, das Schlagen seines Herzens, das wild in der Ader dröhnte, müsste alle Menschen in seinem Umkreis auf ihn aufmerksam machen.

     In dieser nächtlichen Stimmung in der Kirchenbank schlief die Ader auf Pauls Stirn. Als er aber aufstand und seinen Rucksack öffnete, kam wieder Leben in sie. Paul holte eine Stirnlampe heraus, schnallte sie sich um den Kopf, als könnte er durch den Druck des Bandes das Pulsieren des Blutes zurückhalten, und schaltete sie ein. Dann kramte er nach Hammer und Meißel, ließ den leeren Rucksack auf der Kirchenbank liegen und wandte sich dem ersten Fresko zu.

     Vor ihm hielt die Muttergottes das Jesuskind im Arm, das eine Hand zu jenen ausstreckte, die gekommen waren, um ihm zu huldigen. Paul wusste, wie die Haltung der Finger des heiligen Kindes gedeutet wurde, dass die Dreiheit von Daumen, Ringfinger und kleinem Finger die Dreifaltigkeit bekundete und die Zweiheit von Zeige- und Mittelfinger an die Menschheit und Gottheit Jesu erinnerte. Die Handflächen boten sich Paul offen und schutzlos dar; er strich mit plötzlicher Schüchternheit über die feingliedrigen, leicht abgewinkelten Finger.

     Genau am Gelenk dieser Hand des Jesuskindes setzte er als Erstes den Meißel an. Ihm war, als spürte er das Blut in den unsichtbaren Adern fließen, als versetzte es den Meißel in Schwingungen, die sich auf seine eigene Hand, die das Werkzeug hielt, übertrugen. Er genoss dieses Gefühl, dann schlug er zu. Die scharfe Seite des Meißels schrammte zuerst nur über die Oberfläche der Hand und zerkratzte das Fleisch des Kindes. Paul schlug stärker zu, und eine Wunde brach auf. In dem klaf­fenden Mal setzte Paul jetzt den Meißel an, schlug noch zwei-, dreimal zu, dann bröckelte der bemalte Putz von der Kirchenwand, und die Hand des Jesusknaben war verschwunden. Rasch blickte sich Paul um und suchte in den Gesichtern des Kindes, der Gottesmutter und der Figuren in seiner Nähe nach Anzeichen einer – wenn auch stummen – Reaktion; doch die Mimik der Heiligen blieb ausdruckslos. Völlig in sich gekehrt und von der Welt abgewandt, blickten sie ins Leere, hin zu einem Ort, den nur sie kannten.

     Die Hände der Muttergottes tastete Paul nicht an, ihre Makellosigkeit wollte er nicht beschädigen. Bevor er sich aber daran machte, auch die Hände der anderen männlichen Figuren abzuschlagen, legte Paul Hammer und Meißel auf den Boden und seine Finger dorthin, wo sich eben noch die Hand des Jesuskindes befunden hatte. Eine Welle der Befriedigung, wie er sie sich erhofft hatte, durchströmte ihn; er fühlte, dass er das Richtige getan hatte.

     In diesem Moment war der dreizehnjährige Paul Kilian glücklich. Es sollte über zwanzig Jahre dauern, bis er ähnliches Glück an der Seite eines leibhaftigen Menschen empfand.