Hier führe ich Tagebuch über die Bücher, die ich im Laufe des Jahres 2024 gelesen habe.

 

Im Suhrkamp-Verlag erschien jüngst eine deutsche Ausgabe eines über zwanzig Jahre alten Klassikers der queeren Literatur, Torero, ich habe Angst. Der chilenische Autor Pedro Lermebel setzt das Schwärmen, das Herzklopfen, ja die Liebe seiner weltvergessenen Heldin, "nicht mehr jung, nicht mehr Mann", zu einem attraktiven Studenten, der sich als Revolutionär entpuppt, in die Aufbruchsstimmung der Proteste gegen die Militärdiktatur Augusto Pinochets im Frühjahr 1986. In ihrer trotzig-selbstbestimmenden, oft auch flatterhaft-poetischen Sprache schildert die Heldin die Wallungen der Politik und ihrer Seele; es ist eine mitreißende Geschichte, in die wir hier gezogen werden, die Akteuere und Akteurinnen wechseln, und durch die unterscheidlichen Perspektiven entsteht das plastische Bild eines Landes und der Umwälzungen, die um die Personen herum und in ihnen vorgehen. Und indem wir den Befreiungsakt der im Chaos ihrer Gefühle gefangenen Protagonistin begleiten, wächst sie uns ans Herz.

Für Filmliebhaber:innen ist der Band Cinema Speculation ein wahres Fest! Der Ausnahmeregisseur Quentin Tarantino versammelt darin Essays zu den wichtigsten amerikanischen Filmen der Neunzehnsiebziger, die er selbst als Kind und meist in Doppelvorstellungen gesehen hat. Darin verwebt er detaillierte Analysen eben dieser Streifen, von Dirty Harry über The Getaway bis zu Escape from Alcatraz, mit persönlichen Erlebnissen und Erkenntnissen aus Gesprächen mit Filmschaffenden. Einer, der sozusagen an der Quelle saß und daraus in seiner Sozialisation seinen schier unstillbaren Durst auf alles stillte, das mit dem Medium Film zusammenhängt, plaudert aus dem Nähstübchen, und zwar mit dem Feuereifer eines echten Filmfreaks. Für diese Kategorie an Leser:innen ist das Buch denn auch gedacht und entpuppt sich als wahre Schatztruhe.

Da hat der Fischer-Verlag für seine Taschenbuchausgabe aus 2004 des ersten Romans von Gabriel García Márquez mit dem Titel Laubsturm, den er bereits mit neunzehn Jahren schrieb und der im Jahr 1955 seine Erstveröffenbtlichung erfuhr, aber ein besonders hässliches Covermotiv ausgewählt. Schon damals entwarf der Literaturnobelpreisträger in dem für ihn magischem Realismus die Welt von Macondo, die uns später in seinem einzigartigen Roman Hundert Jahre Einsamkeit sosehr faszinieren sollte. Ein alter Oberst, seine Tochter und sein neunjähriger Enkel erzählen aus unterscheidlichen Perspektiven von dem in der Hitze Kolumbiens gelähmten Ort, vom Bürgerkrieg und dem Bananenboom und allerlei seltsamen Menschen, und zwar in einer für García Márquez untypisch knappen Weise. Insofern mutet der Text aus heutiger Sicht wie eine - zweifellos sehr gelungene - Stilübung für das folgende schwelgerische Werk an. 

Es ist im Grunde genommen ein wunderbarer Liebesroman, den der US-amerikanische Schriftsteller Bryan Washington mit dem Buch Dinge, an die wir nicht glauben aus dem Jahr 2020 geschrieben hat, und dies, obwohl die Beziehung zwischen dem schwarzen Kindergärtner Ben und seinem Freund Mike, einem Koch mit japanischen Wurzeln, gleich zu Beginn auf der Kippe zu stehen scheint. Trotz großer gegenseitiger Zuneigung glauben sie nicht mehr an so etwas wie beständiger Liebe, dazu steht eine plötzliche räumliche Trennung ins Haus und eines Tages Mikes schroffe Mutter auf Besuch aus Japan vor der Tür; gerade, als Mike eben dorthin aufbricht, um seinen todkranken Vater zu pflegen. Aus wechselnden Erzählperspektiven erleben, nein: fühlen wir in Wahsingtons intensiver Erzählung die Emotionen im Zwiespalt der beiden Männer, nicht miteinander, aber definitiv auch nicht ohne einander leben zu können und zu wollen. Ihre Suche nach einem für sie persönlich passenden Weg aus diesem Schlamassel, als das sich ihr Leben geriert, ist schnörkellos und nicht ohne Humor geschrieben und geht wirklich nahe.

Der deutsche Schriftsteller Bodo Kirchhoff wendet in seinen Texten die Vorgehensweise des Um- und Einkreisens an, und zwar, was den Inhalt und die Figuren, als auch die Sprache betrifft, die er Wort für Wort und Satz für Satz hinterfragt - ein Suchender um die Ungewissheit und Gewissheit von Sprache. "Man muss Sätze lieben", hat es Bernhard Schlink, Autor des Weltbestsellers Der Vorleser jüngst in einem Interview auf die Frage formuliert, was es denn brauche, um ein Schriftsteller zu sein: "Man muss die Gestalt und das Gestaltgeben lieben." In diesem Sinne erweist sich Bodo Kirchhoff auch in seinem Roman Bericht zur Lage des Glücks aus 2021 als wahrer Schriftsteller. Ein Mann auf den Spuren einer zerbrochenen Liebe im Süden Italiens mit dem Ziel, das eigene Unglück abzuschütteln, dort die Begegnung mit einer hochgewachsenen afrikanischen Schönheit und die Frage nach dem Eigentlichen und dem, was Bestand haben könnte - der Sog von Kirchhoffs faszinierender Sprachgenauigkeit zieht uns in seine Erzählkunst um das Erkunden der Liebe.

Das arme Buch, habe ich mir beim Lesen des Öfteren gedacht, denn ich musste es bei jedem Umblättern dermaßen verbiegen, um auch den Text am inneren Rand entziffern zu können, dass der Buchrücken danach bereits völlig zerlesen aussah. Was dann aber auch nicht viel ausmachte, denn ein zweites Mal werde ich mir  Soldaten des rumänischen Autors Adrian Schiop sicherlich nicht zu Gemüte führen. Als einen "queeren Roman mit Kultstatus" bewirbt der Verlag das Buch; da hat's bei mir aber gar nicht gefunkt. Der ärmste Bezirk von Bukarest, ein unsympathischer Ich-Erzähler und seine Liebe zu einem aus einer Gangsterfamilie stammenden Rom. Was durchaus Potential zu einer romantischen "amour fou" hätte, hangelt sich von einem Saufgelage zum nächsten und suhlt sich in larmoyanter Selbstzerstörung. Dazwischen nichts, darüber hinaus nichts, führt zu nichts. 

Eine kleine Bäckerei in Houston, Texas, geführt von einer Familie koreanischer Einwanderer, TJ, der HIV-positive Sohn, und Cam, sein bester Freund von Kindheitstagen an, dessen geliebter Gefährte vor seinen Augen von einem Polizisten erschossen wird - die innere Zerrissenheit und die Verzweiflung, von der das Figurenpersonal von Bryan Washingtons berührendem Roman An einem Tisch geradezu erdrückt wird, könnte nicht größer sein. Und doch ist da die Freundschaft zwischen TJ und Cam, ist die Stütze, die sie einander nicht immer, in entscheidenden Momenten aber doch geben, die die beiden jungen Männer am Leben erhält und ihnen am Schluss des Buches auch so etwas wie einen Weg in die Zukunft weist. Von wechselnden Perspektiven aus nimmt uns Washingtons lakonische und dennoch sehr intensive Erzählweise, die ich fast als phantastischen Realismus bezeichnen möchte, an der Hand und geleitet uns in eine Art von Hoffnungsschimmer, der immer dann, wenn gemeinsam gekocht, gebacken und gegessen wird, besonders greifbar wird.

Der deutsche Schriftsteller Bodo Kirchhoff war am Anfang seiner literarischen Tätigkeit ein Meister der kleinen Form, in seinem Spätwerk entwickelte er sich zu einem der dicken Wälzer. Seine Mexikanische Novelle eröffnete mir bei ihrem Erscheinen im Jahr 1984 eine ganze Welt an für mich damals sensationellen Eindrücken, wozu Sprache in Bezug auf ihre Klarheit und Tiefe in der Lage sein kann. Nun, als Unikum inmitten der Romane der letzten Zeit, erscheint mir Nachtdiebe abermals eine Novelle, laut Kirchhoff selbst eine Art Destillat aus seinem Roman Der Sandmann (1992). Der Sinn und Zweck erschließt sich mir nicht, die Vorlage war nur unmerklich länger, Personal, Szenerie und Geschichte, ja ganze Sätze sind ident. Die Suche eines alternden Radiosprechers mit betörender Stimme nach der Babysitterin seines kleinen Sohnes in den Souks von Tunis erweist sich zudem als ziemlich wirr und in der Schilderung der Geschehnisse und Emotionen furchbar redundant und somit recht langweilig.

Als "nah am Monolog geschrieben" wird Gabriel Wolkenfelds Roman Wir Propagandisten beschrieben, und dies mag der hauptsächliche Grund dafür sein, dass ich zu dem Buch, erstmals im Jahr 2015 erschienen und nun neu aufgelegt, keinen Zugang gefunden habe. Wenn mir die erzählende Hauptfigur schon fremd bleibt, verhält es sich mit der Geschichte natürlich nicht anders. Ein junger schwuler Slawist verbringt ein Jahr in Russland, er soll deutsche Sprache und Kultur vermitteln, derweil die Duma sich anschickt, sogenannte "homosexuelle Propaganda" zu verbieten. Dementsprechend im Verborgenen finden Treffen unter Gleichgesinnten in "Themenclubs" statt und herrscht eine Atmosphäre des latenten Misstrauens. Mehr "show" als "tell" hätte die Schilderungen wohl konkreter und anschaulicher gemacht.

Der spanische Ausnahmeregisseur Pedro Almodóvar tritt mit dem Band Der letzte Traum als Autor von Erzählungen in Erscheinung, die nur zum Teil als für sich stehende Kurzgeschichten bestehen können. Wie Almodóvar selbst im Vorwort vermerkt, sind die meisten Texte eng mit seinem filmischen Werk verbunden. Sie ähneln ausgebauten Skizzen oder mit Dialogen versehenen Treatments zu einigen seiner Arbeiten, die ich als großer Bewunderer dann auch in lebendigen Bildern - etwa die Missbrausszene eines Buben durch einen Pater in La mala educacíon ("Der Besuch") oder die Aufführung des Theaterstücks Endstation Sehnsucht im Streifen  Alles über meine Mutter ("Zu viele Geschlechtsumwandlungen") - vor meinem inneren Auge ablaufen gesehen habe; in diesem Sinne habe ich die Lektüre genossen, ich bezweifle aber, dass Leser:innen, die mit Almodóvars Werk weniger vertraut sind, damit tatsächlich viel anfangen können. 

"Im neunzigsten Jahr meines Lebens wollt ich mir zum Geburtstag eine liebstolle Nacht mit einem unschuldigen Mädchen schenken." Wenn Gabriel García Márquez', der unangefochtene Meister der ersten Sätze, über einen greisen Toren und die überwältigende Macht der Liebe schreibt, kommt dabei pure Poesie heraus. Inspiriert durch die jüngste posthume Veröffentlichung seines letzten Textes Wir sehen uns im August, habe ich den kurzen Roman Erinnerungen an meine traurigen Huren aus dem Jahr 2004 für mich wiederentdeckt. Die zauberhafte Prosa des Literaturnobelpreisträgers trägt durch die Gefühlswelt dieses alten Mannes, dem es genügt, die Angebetete ganze Nächte hindurch nur beim Schlafen zu beobachten, und dem diese tiefe Zuneigung neuen Lebensmut und ungeahnte Einsichten in seine Identität schenkt. Einfach wunderschön.

Was nur in aller Welt ist da in André Aciman gefahren? Nach dem Buch Find Me (2019), der zum Fremdschämen misslungenen Fortsetzung seines Meisterwerks Call Me By Your Name (2007), legt der Autor nun einen schmalen Band mit dem Titel The Gentleman from Peru vor, eine kleine Novelle, durch verschwenderisches Layout und besonders großen Druck auf 169 Seiten aufgeblasen. Das Setting ist Aciman-like, ein Küstenstreifen im Süden Italiens im Sommer, das Zirpen der Grillen in den Olivenhainen, ein einsamer Strand mit den Ruinen eines Leuchtturms. In einem luxuriösen Hotel treffen ein geheimnisvoller älterer Herr namens Raoul und eine Gruppe junger Amerikaner:innen aufeinander, es kommt zum heilenden Auflegen einer Hand, zur Vorhersage der Zukunft und schließlich zum Eintauchen in die Erinnerung an eine Liebe vierzig Jahre zuvor - jedoch nicht in Form ausfomulierten Nacherlebens, sondern ganz simpel als direkte Erzählung Raouls. Und während man der schönen Stimmung wegen noch gnädig über so manche schwülstige Stilblüten hinwegzusehen bereit ist, realisiert man, dass die Sache tatsächlich auf Seelenwanderung und Wiedergeburt hinausläuft, ohne ironische Brechung, ohne Zwischentöne, sondern schlicht und einfach ernst gemeint. In puncto Rufschädigung in eigener Sache hat Herr Aciman einen großen Schritt vorwärts gemacht.

Dass sich der junge Autor Kipling mit einer Pistole und einem Vorrat an Mineralwasser in seinem Arbeitszimmer im Keller verbarrikadiert, um in nur drei Wochen seinen literarischen Erstling fertigzustellen, ist eine frische Ausgangsidee für den Roman Grönland des amerikanischen Schriftstellers David Santos Donaldson. Dass sich dieses Buch mit der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen dem britischen Autor E. M. Forster (Maurice, geschrieben 1914, doch erst 1971 posthum veröffentlicht) und dem wesentlichen jüngeren Ägypters Mohammed El Adl befassen soll, klingt nicht weniger reizvoll. Und auch die Erlebnisse des Marokkaners Mohammed, mit dem sich Kipling nach seiner Flucht aus New York in Grönland anfreundet, muten mir spannender an als Kiplings überspanntes Innenleben, das auf mindestens hundert Seiten zu lang vor uns ausgebreitet wird. Das Schicksal der beiden Mohammeds, detailreicher auserzählt, hätte wohl ein interessanteres Buch ergeben.

Als Freund der Bücher des deutschen Juristen und Autors Bernhard Schlink seit seinem ungeheuren Erfolg mit Der Vorleser (1995) war ich von seinem neuesten Roman Das späte Leben eher enttäuscht. Die sechsundsiebzigjährige Hauptfigur, Martin, wird durch die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs aus seinem gewohnten Leben gerissen; in den zwölf Wochen, die ihm der Arzt als Frist avisiert hat, die es zu nützen gilt, setzt Martin nun alles daran, seiner Frau Ulla und seinem kleinen Sohn David als liebevoller und sorgender Ehemann und Vater in Erinnerung zu bleiben. In seinem gewohnt nüchternen Erzählstil geht Schlinks Introspektive in Martins Gefühlswelt nie ins Sentimental-Kitschige, dies als Pluspunkt; sie bleibt meist aber auch so außen vor, dass sich kaum Berührungspunkte und echtes Mitgefühl eingestellt haben. Ins Banale rutscht die Sache in jenen Kapiteln ab, in denen sich Martin in Briefform direkt an David wendet und ihm seine Lebensweisheiten bezüglich Arbeit, Liebe, Gott und die Welt zu vermitteln versucht. 

Als Altherrenlitertaur werden die Romane des deutschen Sprachpräzisisten Bodo Kirchhoff in letzter Zeit immer wieder bezeichnet und das zum Teil nicht von ungefähr. Der Autor ist mittlerweile Mitte siebzig, auch seine Protagonisten befinden sich in diesem späten Lebensabschnitt, dabei steht ihnen die eigene Endlichkeit stets vor Augen. Ein kleines Haus mit Garten auf einem Hang über dem Gardasee, dort wohnt in Seit er sein Leben mit einem Tier teilt ein Mann namens Schongauer, seines Zeichens ehemaliger Darsteller von Nazischergen in Hollywoodfilmen, nach dem Unfalltod seiner Frau mit seiner Hündin, dieses Alleinsein durchbrochen von einer Journalistin mit allzu persönlichen Interviewfragen und einer jungen Reisebloggerin mit fahruntüchtigem Wohnmobil. Kirchhoffs hautsächliche Beschäftigung war immer jene mit der unvermeidlichen Einsamkeit der menschlichen Existenz, vorgetragen mit großer Behutsamkeit im Umgang mit eigenen Gefühlen und denen anderer, und dem (auch späten) Begehren, daraus auszubrechen, nämlich durch nichts Geringeres als die Liebe. Kirchhoff ist ausufernd wie eh und je in seiner Suche nach der Perfektion der Sprache, in der er sich zuweilen auch verliert; doch dann fallen Sätze wie "Eine Liebe fängt an, wenn wir das Glück, das jemand in uns auslöst, nicht länger in Schach halten.", und uns wird klar, jemandem bei der Arbeit zusehen zu dürfen, dem tatsächlich Punktgenauigkeit gelingt.

Von Marlene Dietrich und Joan Crawford über Maria Schell und Audrey Hepburn bis zu Zarah Leander und Bette Davis - es sind große Namen aus der Filmgeschichte, um die sich der deutsche Autor Christoph Dompke in seinem Essayband Alte Frauen in schlechten Filmen kümmert. Doch auch wenn ihn in seiner pointierten Analyse so mancher Mechanismen der Filmbranche und ihres uncharmanten Umgangs mit den alten Damen deren Arbeiten gegen Ende ihrer Karriere und die darin gezeigten Leistungen nicht gerade beglücken, spricht doch in Wahrheit aus den meisten dieser Texte die unbedingte Liebe zum Film und seinen größten Diven. Eine flüssig lesbare Verneigung vor Frauen, deren Blicke von der Leinwand den Autor und nicht nur ihn im Herzen getroffen zu haben scheinen.

In Form eines besonders schön gestalteten Buches erzählt die dänische Autorin Rakel Halsgund-Gjerrild in ihrem Roman Adam im Paradies vom in ihrer Heimat bekannten Maler Kristian Zahrtmann und seinem im Titel des Buches genannten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als skandalös empfundenen Bildes. Ein nackter Mann ist darin von Pflanzen und Früchten eines Paradiesgartens umringt, und während der Fertigstellung des Gemäldes erinnert sich der siebzigjährige Künstler an Episoden aus seinem Leben, die im Klappentext als dekatent bezeichnet werden. Doch kein Funke der hier beschworenen Sinnlichkeit und des behaupteten Eros sind auf mich bei der Lektüre übergesprungen; die Emotionen der Charaktere sind an mir vorbeigegangen, vielleicht, weil die Autorin sie selbst nicht authentisch genug nachempfinden konnte, sondern sich quasi mit einem Blick von außen bescheiden musste. Genauso liest sich dann ihr Text. 

Was ich über das neue Buch von Márquez geschrieben habe, trifft auch auf den schmalen Band An Rändern des belgischen Autors Angelo Tijssens zu: eine Erzählung, eine Novelle vielleicht, durch einen verschwenderischen und in diesem Fall recht unschönen Schriftspiegel zu einem Roman aufgeblasen, der der Text nicht ist. Was die Qualität des Buches aber nicht schmälert. Tijssens, dem Drehbuchautor der beiden wunderbaren queeren Filme Girl und Close seines künstlerischen Partners Lukas Dhont, gelingt es nämlich mit schlafwandlerischer Sicherheit, auf so wenigen Seiten ein ganzes Leben vor unseren Augen wachsen zu lassen: Die Rückkehr eines jungen schwulen Mann in den Kindheitsort am Meer nach dem Tod der Mutter, die Erinnerungen an Jahre der Misshandlungen, der Schläge, Schnitte und blauen Flecken, dazu aber auch der Kameradschaft und ersten Liebe zu einem Schulfreund. Den er, trotz der Zaghaftigkeit im Rasen seines Herzens, nun auch wiedertrifft und mit dem er eine Nacht der Nähe und der Zärtlichkeit, jedoch auch des endgültigen Abschieds verbringt. Ein wunderschöner, in seiner Kargheit berührend-poetischer und tieftrauriger Text, der den Fehlgriff der Gattungsbenennung nicht nötig hat.

Die Bücher des kolumbianischen Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez haben mich durch mein Leseleben begleitet - ein wahres Universum des phantastischen Realismus mit seiner Sensitivität für sämtliche Sinne des menschlichen Daseins hat sich durch Romane wie Hundert Jahre Einsamkeit (1967) und Die Liebe in den Zeiten der Cholera (1985) für mich aufgetan. Nachvollziehbar deshalb die große Vorfreude, alsnun von einer Neuerscheinung mit dem Titel Wir sehen uns im August zehn Jahre nach Márquez' Tod gemunkelt wurde. Der Autor selbst wollte die Geschichte von einer verheirateten Frau, die jedes Jahr mit einer Fähre zu einer tropischen Insel übersetzt, um dort einen Strauß Gladiolen auf das Grab ihrer Mutter zu legen, und die dort durch die Bekanntschaft mit verschiedenen Männern die in ihrer Ehe vermisste Leidenschaft neu für sich entdeckt, vernichtet und auf keinen Fall publiziert wissen, seine Söhne waren nun anderer Meinung. Doch den Text als Roman zu verkaufen, kommt Hochstapelei gleich; in ungewöhnlich großem Druck samt Vor- und Nachwort ist dies eine auf knapp über hundert Seiten aufgebauschte Kurzgeschichte, eine Novelle vielleicht, die in ihrer farbenprächtigen Stimmung angenehm zu lesen ist, jedoch in einer Sammlung von Erzählungen, wie sie von Márquez ja existieren, besser aufgehoben wäre. Die Leseglücksligkeit von früher stellt sich dabei auch aufgrund einzelner sprachlich eher missglückter Formulierungen nicht ein, da müssen wir uns schon mit wenig Wonne der Erinnerung zufrieden geben.

Simon, Mitte vierzig, ist schwul und Friseur wie schon sein Großvater und Vater. Letzteren hat er aber nie kennengelernt, er ist angeblich 1977 beim Zusammenstoß zweier Flugzeuge auf Teneriffa ums Leben gekommen. Das geruhsame, in den immer gleichen Bahnen verlaufende Leben von Simon gerät ins Wanken, als er sich bei der eherenamtlichen Betreuung von Behinderten in einem Schwimmbad von einem von ihnen, dem achzehnjährigen Igor, angezogen fühlt. Und als ein Kunde, ein Schriftsteller, auf die Geschichte von Simos Vater stößt und mit der Recherche darüber beginnt. Der niederländische Autor Gerbrand Bakker versteht es in seinem wunderbaren Roman Der Sohn des Friseus, diese beiden Ebenen kunstvoll miteinander zu verbinden. Das Schwimmen in vorgegeben Bahnen als Metapher für den Alltag seines Protagonisten: In seinem unaufgeregten Stil reflektiert er das Leben dieses Mannes und seiner Existenz zwischen leiser Melancholie, der grundsätzlichen Zufriedenheit am Leben und nur hin und wieder auch ein bisschen Einsamkeit; dabei entwickelt er in stillen Szenen und den Geheimnissen, die sich dahinter verbergen, einen wahrlich mitreißenden Lesesog. 

Ingrid Noll, die überaus erfolgreiche deutsche Autorin, ist auch mit ihren achtundachzig Jahren produktiv wie eh und je. Fast jedes Jahr kommt ein neues Buch heraus, im Diogenes-Verlag gewohnt schön gestaltet. Immer wieder freue ich mich darauf, obwohl der Krimi-Aspekt der Romane seit Nolls beeindruckenden Debüt mit der Hahn ist tot (1991) immer mehr in den Hintergrund tritt. Gruß aus der Küche ist der neueste Roman betitelt, geht es ja um das vierköpfige Figurenpersonal eines veretarischen Restaurants namens "Aubergine". Und wieder ist es so wie immer: Die Autorin beginnt zu erzählen und es ist, als hätten wir uns im gemütlichen Wohnzimmer oder auch der nicht minder gemütlichen Küche der mit viel ironie ausgestatteten Tante Ingrid eingefunden, die uns mit ihren Geschichten das gewohnte heimelige Gefühl einer Teegesellschaft vermittelt. Auch wenn die Handlung immer dünner zu werden scheint und nicht alle Charaktere stimmig getroffen sind (an einer Siebzehnjährigen überhebt sich Frau Noll diesmal), möchte ich die wohlige Stimmung dieser Bücher nicht missen. 

Ich habe den Roman Damals im Sommer des deutschen Autors Florian Gottschick als nette Nebenbei-Unterhaltung zu lesen begonnen, das Thema einer ersten Liebe in den Ferien Ende der Neunzigerjahre klang ansprechend. Die sich schüchtern anbahnende Freundschaft mit einem anderen Burschen, erste Erfahrungen in den Dünen, kleine Rivalitäten mit dem älteren und viel cooleren Bruder, die Selbstfindung in der eigenen Homosexualität - die Rezensionen waren allenthalben sehr positiv. Gestolpert bin ich dann schon bald über so manche krasse Stilblüten: "An diesem Tag umschmiegte mich die Hitze wie ein aufdringlicher Liebhaber, dessen allgegenwärtige Hände in Übergriffigkeiten umzuschlagen drohten." Das tut weh! Die Handlung fließt dann aber locker und unterhaltsam dahin, bis der Autor gegen Ende anscheinend mehr will und die Geschichte mit einer Reihe weiterer Probleme überfrachtet. Und wo er tiefgründig zu sein versucht, kommen wieder die Stilblüten. In den richtigen Händen könnte ich mir die Erzählung aber gut als melancholischen Sommerfilm vorstellen.

Ein junger schwuler Dachdecker auf der Walz und dabei auf der Suche nach Freundschaft, Sex, Liebe und in erster Linie nach sich selbst, und das alles angesiedelt in den Jahren 1978/79: Da hoffte ich auf, wie vom Klappentext versprochen, eine atmosphärisch stimmige erzählung über das "Entkommen aus dem tristen Schweigen der westdeutschen Vorwende-Provinz in die gelöste Rhetorik eines freien Geistes". Leider hat mich der Roman Der Spunk von Michael Roes aber nicht gefunden; das mag an dem flapsisgen deutschen Dialekt liegen, in dem Gabriel, mit naivem Staunen über Frankfurt und West-Berlin bis nach Südfrankreich unterwegs, über sich erzählt und an der immergleichen Redundanz seiner Erlebnisse. Das Buch lässt für mich jeden Charme vermissen, tut mir leid, zu den Charakteren wollte sich beim lesen keine Nähe einstellen, und so war es mir gegen Ende auch ziemlich egal, ob es was wird mit Gabriel und "Pille" aus Berlin.

Nach ihrem großen Erfolg mit dem Roman Engel des Vergessens war es etliche Jahre lang eher still um die Autorin Maja Haderlap. Nun legt sie mit Nachtfrauen ein Buch vor, das sich drei Generationen Südkärntner Frauen mit slowenischen Wurzeln widmet. Mira kehrt in das Dorf ihrer Kindheit und Jugend zurück, ihre alte Mutter Anni soll auf den Umzug in ein Pflegeheim vorbereitet werden, deren Mutter wiederum wurde von den Gräuel des Krieges heimgesucht. Ihr Ringen mit prekären Lebensumständen, unabwägbaren politischen Entwicklungen und patriachalischen Lebensformen führen zu jenen kleinen und größeren Tragödien, in denen ihnen die ersehnte weibliche Autonomie zuweilen als unerreichbar erscheinen mag. Haderlaps Sprache ist konzentriert und fern pathetischen Überschwangs, dringt aber tief in Mias und Annis Charaktere ein und lässt uns an ihrem Leben und den Erinnerungen an das teilhaben, was früher war und sie zu den Frauen gemacht hat, die sie heute sind.

Der Sauhund aus dem Titel heißt Flori, ein laut Verlagstext junger Mann, "der so lange fortläuft, bis er selbst bei sich ankommt." Der junge Bad Tölzer Autor Lion Christ hat seinen Debutroman im Jahr 1983 und später angesiedelt, wobei ich die Szenen vor Floris Flucht aus der Enge eines Kaffs in die Großstadt München besonders gut beschrieben fand. Zu Beginn hat Flori gerade seinen Zivildienst hinter sich gebracht und im Schulfreund Gregor eine erste Liebe gefunden. Er weiß insgeheim aber nur eins: Er muss weg von der Mutter, die ihn zu erdrücken droht, vom biederen Vater und einem Umfeld, in dem er keinen blassen Schimmer von den Möglichkeiten seiner Zukunft hat. Diese Passagen sind pointiert gestaltet, die Dialoge im Dialekt sitzen, die Charaktere sind glaubhaft. In München wird die Szenerie klischeehafter. Flori trifft auf das schwule Leben, in Clubs und auf Klappen macht er mit Drag Queens, Drogen, unverbindlichem Sex, Freiern und den ersten schwarzen Wolken einer neuen Krankheit namens AIDS Bekanntschaft. Simplicissiumus, der er eigentlich ist und immer bleiben wird, ist er aber nur von der Sehnsucht nach dem einen "richtigen" Menschen beseelt. Als er diesen im letzten Teil des Buches kennenlernt und sich in seiner Unsicherheit und großen Verletzlichkeit vorerst gegen eine engere Beziehung stemmt, weiß das Buch, wissen sein Ton und die liebenswert-unbeholfene Hilflosigkeit seiner Charaktere mit berührenden Momenten wieder zu überzeugen.

Wenn er wieder einmal eine ganze Nacht lang von älteren Männern missbraucht wird, sieht das Knabe Antinoos sich selbst als Vogel, der aus seinem Körper fliegt und von hoch oben das grausige Treiben wie von außen verfolgt. Ich, Sperling heißt demnach auch der historische Roman von James Hynes. Antinoos wächst als namenloses Waisenkind in einem Bordell in einem römischen Ort an der spanischen Südküste auf. Einige der Prostituierten, fast allesamt Sklavinnen, kümmern sich um ihn wie Mütter, doch er erfährt Zwang, Gewalt und Schmerz am eigenen Leib - ein Leben in Elend ist ihm vorgezeichnet, besonders, als er älter wird und nun selbst Freiern gefügig sein muss. Ich, Claudius, Kaiser und Gott nannten sich der Roman von Robert Graves (1934) und die dazugehörige erfolgreiche Fernsehserie (1976), in der ein alter Mann, in diesem Fall eben der Kaiser Claudius, Rückschau auf sein Ldeben hält. In Ich, Sperling ist es der alte Sklave, der sich an die Vergangenheit erinnert, mit dem Unterschied, dass nur die Kindheit des gepeinigten Protagonisten abgedeckt wird - vielleicht ist ja eine Fortsetzung geplant. Dieser kann man mit Interesse entgegensehen, denn Hynes schöpft bei seiner Erzählung aus dem Vollen, seine Sprache ist bildreich und die Antike entsteht vor unseren Augen mit fast zum Angreifen anschaulicher Lebendigkeit. Ein Roman über die Traumata der Gedemütigten und Entrechteten, aber auch über die Zärtlichkeit und Liebe, die zwischen diesen Figuren entsteht, und deren unbedingten Willen zu überleben.

Die Herbstnovelle der deutschen Autorin Jana Walther ist die Fortsetzung ihres Romans Im Zimmer wird es still, dessen damalige Veröffentlichung ich direkt mitverfolgen konnte. Ich fand ihn damals und finde ihn heute zärtlich, traurig und, obwohl es sich um das Thema von Krankheit und Tod dreht, lebensbejahend. In dieser Weise hat mich auch Herbstnovelle berührt. Jana Walther beschreibt auf unaufdringliche, leise und wahrscheinlich gerade deshalb so intensive Weise die Hochzeit von Peter und Andreas am Krankenbett und den bald darauf folgenden Krebstod von Peter. Sie beschreibt aber auch den Weg, den Andreas in den Wochen und Monaten darauf geht, seine Trauer, seine Verlorenheit in der Welt, die täglichen Verrichtungen, die Zwiegespräche mit Peter an dessen Grab - und dann, ganz allmählich, seine Annäherung an Mark, der vom besten Freund zu mehr wird. Das ist  gefühlvoll und geradezu behutsam geschildert: als Weg zurück ins Leben.

Weil er erfährt, dass sein Sohn auf eine Eliteschule der Nazis aufgenommen werden möchte, kommt Franz Schindl eine Dreiviertelstunde zu spät in die Fabrik - und wird noch im letzten Kriegsjahr 1945 eingezogen. In wunderbarer, auf raffinierte Weise einfacher Sprache und unter Einbeziehung von entdeckten Feldbriefen seines Großvaters entwirft der hauptberuflich als Dermatologe tätige Dr. Andreas Schindl in Die Verspätung das Bild einer Kindheit und Jugend in der Härte des ländlichen Lebens in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Es gelingt ihm, auf nur etwa 120 Seiten eine in sich abgerundete historische Erzählung zu gestalten, die in weiten Teilen auf den Biografien von Mitgliedern seiner Familie beruht: Wie einige wenige dahingesagt Sätze ein Leben völlig verändern können, weiß uns tief zu berühren. Zudem ist das Büchlein überaus schön gestaltet.

Im fünften Band der Heartstopper-Comicsreihe sprechen Charlie und Nick zueinander die drei schwerwiegenden Worte aus und müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit sie mit einer räumlichen Trennung, begründet durch die Wahl Besuch eines weiter entfernten Colleges, durch den älteren Nick zurande kommen können. Liebenswert und zart wie gewohnt, erzählt Alice Oseman ihre schwule Liebesgeschichte auf altersadequate und warmherzige Weise; das ist nicht so frisch gelungen wie in den ersten Bänden, vermag den Lesenden aber dennoch ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern.